Malcolm Gladwell
David und Goliath
Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen
Leseprobe
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Einleitung
Im Tal von Elah
Im Herzen des antiken Palästina liegt eine Region namens Schephela, eine Hügellandschaft, die die Judäische Berge im Osten mit der weiten Tiefebene der Mittelmeerküste verbindet. Es ist eine Gegend von atemberaubender Schönheit, in der Wein und Weizen angebaut werden und Maulbeer- und Terebinthenwälder wachsen. Außerdem sind sie von großer strategischer Bedeutung.
In den vergangenen Jahrtausenden wurde die Region immer wieder heftig umkämpft, denn durch die Täler der Schephela erhalten die Küstenbewohner Zugang zu den Städten Hebron, Bethlehem und Jerusalem in den Judäischen Bergen. Das wichtigste Tal ist Aijalon im Norden, doch das geschichtsträchtigste ist Elah. Hier stellte sich Saladin im 12. Jahrhundert den Kreuzfahrern entgegen, hier erhoben sich knapp anderthalb Jahrtausende zuvor die Makkabäer gegen die Seleukiden, und hier traf zu Zeiten des Alten Testaments das junge Königreich Israel auf das Heer der Philister.
Die Philister waren von Kreta gekommen. Sie waren ein Volk von Seefahrern, das sich an der Küste Palästinas niedergelassen hatte. Die Israeliten lebten in den Bergen unter der Herrschaft von König Saul. Irgendwann in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung wandten sich die Philister nach Osten und zogen das gewundene Elah-Tal hinauf. Ihr Ziel war es, eine Hügelkette in der Nähe von Bethlehem einzunehmen und so einen Keil in Sauls Königreich zu treiben. Die Philister waren gefürchtete Krieger und kamen als erklärte Feinde der Israeliten. In Sorge rief König Saul seine Krieger zusammen und eilte von den Bergen herab, um sich den Eindringlingen entgegenzustellen.
Die Philister schlugen ihr Lager am Südhang des Elah-Tals auf, die Israeliten sammelten sich auf der Nordseite. Nun standen sich die Armeen nur durch den Fluss getrennt gegenüber und warteten. Ein Angriff hätte bedeutet, den Hang hinunter- und auf der anderen Talseite ohne jede Deckung den feindlichen Hang hinaufzustürmen. Keines der beiden Heere wagte den ersten Schritt – bis die Philister ihren stärksten Krieger ins Tal schickten, um die Israeliten herauszufordern und mit einem Zweikampf den Stillstand zu überwinden.
Der Mann war ein Riese. Er war über 2 Meter groß, trug einen bronzenen Helm und einen Schuppenpanzer und war mit einem Schwert, einem Spieß und einem Wurfspeer bewaffnet. Vor ihm ging ein Mann her, der seinen Schild trug. Der Hüne baute sich vor den Israeliten auf und rief: »Wählt euch doch einen Mann aus! Er soll zu mir herunterkommen. Wenn er mich im Kampf erschlagen kann, wollen wir eure Knechte sein. Wenn ich ihm aber überlegen bin und ihn erschlage, dann sollt ihr unsere Knechte sein und uns dienen.«
Die Israeliten erstarrten. Wer sollte diesen furchterregenden Gegner bezwingen? Schließlich trat ein Hirtenjunge vor, der aus Bethlehem gekommen war, um seinen Brüdern in Sauls Heer Proviant zu bringen. Saul stellte sich dem Jungen in den Weg: »Du kannst nicht zu diesem Philister hingehen, um mit ihm zu kämpfen; du bist zu jung, er aber ist ein Krieger seit seiner Jugend.« Doch der Hirtenjunge ließ sich nicht beirren. Er hatte schon gefährlichere Gegner bezwungen: »Wenn ein Löwe oder ein Bär kam und ein Lamm aus der Herde wegschleppte, lief ich hinter ihm her, schlug auf ihn ein und riss das Tier aus seinem Maul.« Saul blieb keine andere Wahl. Er gab nach, und der Hirtenjunge lief ins Tal hinunter, wo der Riese schon auf ihn wartete. Als der seinen Gegner kommen sah, rief er ihm entgegen: »Komm nur her zu mir, ich werde dein Fleisch den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren zum Fraß geben.« Damit begann einer der berühmtesten Kämpfe der Geschichte. Der Riese hieß Goliath, der Hirtenjunge David.
2
In diesem Buch geht es um gewöhnliche Menschen, die sich Riesen entgegenstellen. Mit »Riesen« meine ich übermächtige Gegner jeder Art, von Armeen und furchteinflößenden Kriegern bis hin zu Behinderungen, Schicksalsschlägen und Unterdrückung. Jedes Kapitel erzählt die Geschichte von bekannten oder unbekannten, gewöhnlichen oder genialen Menschen, die vor einer übermächtigen Herausforderung standen und mit dieser umgehen mussten. Dabei mussten sie sich fragen: Soll ich mich an die Spielregeln halten? Oder soll ich meinem Bauchgefühl folgen? Soll ich ausharren oder aufgeben? Soll ich zurückschlagen?
In diesen Geschichten möchte ich zwei Gedanken nachgehen. Der erste ist, dass vieles von dem, was uns als Gesellschaft wertvoll ist, aus ähnlich einseitigen Auseinandersetzungen hervorgeht: Der Akt des Widerstands gegen unüberwindlich erscheinende Hindernisse bringt Größe und Schönheit hervor. Und der zweite Gedanke ist, dass wir diese Auseinandersetzungen ganz grundsätzlich falsch verstehen. Zum einen, weil Riesen nicht das sind, was sie scheinen, und sich hinter ihrer vermeintlichen Stärke in Wirklichkeit oft eine Schwäche verbirgt. Und zum anderen, weil uns das Gefühl, am kürzeren Hebel zu sitzen, in ungeahnter Weise verändern kann: Es öffnet Türen, schafft Freiräume, zeigt Wege auf und macht Dinge möglich, die andernfalls vielleicht unmöglich gewesen wären. Wir brauchen eine bessere Anleitung für unsere Kämpfe mit Riesen, und es gibt keinen besseren Ausgangspunkt für unsere Reise als das epische Duell, das David und Goliath vor 3000 Jahren im Tal von Elah austrugen.
Als Goliath die Israeliten herausforderte, verlangte er einen Zweikampf. Das war in der Antike gängige Praxis. Um Blutvergießen in einer offenen Feldschlacht zu vermeiden, wählten beide Seiten einen Krieger aus, der sie vertreten sollte. Der römische Historiker Quintus Claudius Quadrigus berichtet beispielsweise von einer Schlacht zwischen Römern und Galliern im vierten vorchristlichen Jahrhundert, in der ein gallischer Hüne seine römischen Gegner verhöhnte. »Dies empörte einen gewissen Titus Manlius, einen jungen Mann aus edelster Familie«, schrieb Quadrigus. Titus forderte den Gallier zum Zweikampf heraus:
» Er trat vor und wollte nicht zulassen, dass ein Gallier die Ehre der Römer in derart schändlicher Weise in den Dreck zog. Bewaffnet mit einem Legionärsschild und einem spanischen Schwert trat er auf den Gallier zu. Während die beiden Männer auf der Brücke über den Anio aufeinanderprallten, sahen die Soldaten an beiden Ufern des Flusses in großer Anspannung zu. Der Gallier lauerte hinter seinem Schild auf den Angriff, während sich Manlius weniger auf sein Geschick als auf seinen Mut verließ, mit seinem Schild auf den Schild des Galliers einschlug, dass dieser den Halt verlor. Während der Gallier versuchte, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, schlug Manlius ein weiteres Mal mit seinem Schild gegen den Schild des Galliers und zwang diesen zurückzuweichen. So schlüpfte er unter der Klinge des Galliers hindurch und stieß ihm sein spanisches Schwert in die Brust … Nachdem Manlius ihn getötet hatte, schlug er dem Gallier den Kopf ab, riss ihm die Zunge heraus und legte sie sich, blutbeschmiert, wie sie war, um den Hals.«
Genau das erwartete Goliath: einen ebenbürtigen Krieger, der sich ihm im Kampf Mann gegen Mann stellte. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass der Kampf nicht nach den althergebrachten Regeln verlaufen könnte, weshalb er sich nur für den Nahkampf gerüstet hatte. Um seinen Körper vor Schlägen zu schützen, trug er einen Panzer aus Hunderten Bronzeplättchen, die sich wie Fischschuppen über Brust und Arme legten und hinunter bis zu den Knien reichte. Allein dieser Panzer muss mehr als 50 Kilogramm gewogen haben. Außerdem trug Goliath bronzene Beinschienen, die Schienbeine und Füße schützten, sowie einen schweren Helm aus demselben Metall. Er hatte drei Waffen, die speziell für den Nahkampf ausgelegt waren: In der einen Hand hielt er einen bronzenen Spieß, der jeden Schild und selbst eine Metallrüstung durchschlagen konnte. Am Gürtel trug er ein Schwert. Und als erste Wahl hatte er einen Wurfspeer mit einem »Schaft … so dick wie ein Weberbaum«. Dank einem raffinierten, aus einem Strick und Gewichten bestehenden Mechanismus konnte Goliath diesen Speer mit großer Kraft und Präzision schleudern. Der Historiker Moshe Garsiel schreibt: »Die Israeliten fürchteten, dass der starke Goliath mit diesem außergewöhnlichen Speer mit seinem mächtigen Schaft und seiner langen und schweren Eisenspitze jeden Bronzeschild und jeden Bronzepanzer durchschlagen würde.« Verstehen Sie jetzt, warum keiner der Israeliten den Mumm hatte, es mit Goliath aufzunehmen?
Bis David vortritt. Saul will ihm sein Schwert und seine Rüstung mitgeben, damit er wenigstens den Hauch einer Chance hat. Doch David lehnt dankend ab: »Ich kann in diesen Sachen nicht gehen, ich bin nicht daran gewöhnt.« Stattdessen bückt er sich, liest fünf glatte Flusskiesel vom Boden auf und steckt sie in seine Hirtentasche. Dann geht er mit seinem Hirtenstab hinunter ins Tal. Als Goliath den Jungen auf sich zukommen sieht, ist er beleidigt. Er hat erwartet, sich mit einem erfahrenen Kämpen zu messen. Stattdessen sieht er einen jungen Hirten, einen Mann aus dem niedersten aller Stände, der offenbar mit seinem Stab gegen Goliath antreten will. »Bin ich denn ein Hund, dass du mit Stecken zu mir kommst?«, ruft er dem Jungen entgegen.
Was dann passiert, ist Legende. David nimmt einen Stein aus der Tasche, schießt ihn mit seiner Schleuder ab und trifft den Riesen an der Stirn. Goliath sinkt betäubt zu Boden. David läuft zu ihm hin, nimmt das Schwert des Riesen und schlägt ihm den Kopf ab. »Als die Philister sahen, dass ihr starker Mann tot war, flohen sie«, heißt es in der Bibel. Wie durch ein Wunder und völlig wider Erwarten entscheidet der Schwächere den Kampf für sich. Mit dieser Moral wurde die Geschichte über die Jahrtausende hinweg immer wieder erzählt, und so gingen »David und Goliath« als Redewendung in unsere Sprache ein: Als Metapher für einen unmöglich geglaubten Sieg. Diese Interpretation hat jedoch einen Haken: Sie ist falsch.
3
Schon die Armeen der Antike kannten drei Waffengattungen: Die Kavallerie mit ihren berittenen Kriegern und Streitwagen; die Infanterie aus Fußsoldaten mit Schwertern, Schilden und Rüstungen; und schließlich die Waffengattung, die man heute als Artillerie bezeichnen würde und die damals aus Bogenschützen und vor allem Kriegern mit Steinschleudern bestand. Die Schleuder war oft ein Ledertäschchen, an dessen Seiten jeweils ein langer Strick befestigt war. Die Schleuderer legten einen Stein in das Täschchen, wirbelten die Schleuder immer schneller und in immer größeren Kreisen herum und ließen dann ein Ende los, woraufhin der Stein herausflog.
Schleudern erfordert großes Geschick und viel Erfahrung. In geübten Händen war die Schleuder eine tödliche Waffe. Bilder aus dem Mittelalter zeigen, wie Schützen mit ihrer Schleuder fliegende Vögel vom Himmel holen. Irische Schleuderer waren angeblich in der Lage, jede Münze, die sie sehen konnten, auch zu treffen. Und im »Buch der Richter « des Alten Testaments heißt es, Schleuderer konnten »einen Stein haargenau schleudern, ohne je das Ziel zu verfehlen«. Ein erfahrener Schütze konnte einen Menschen auf eine Entfernung von 200 Metern töten oder schwer verletzen. Die Römer hatten spezielle Zangen, um die Steine aus dem Körper eines armen getroffenen Soldaten zu entfernen. Stellen Sie sich vor, ein Baseballprofi wirft Ihnen aus nächster Nähe und mit voller Wucht einen Ball an den Kopf – genau das drohte einem Soldaten im Angesicht eines Schleuderers. Mit dem kleinen Unterschied, dass es sich nicht um einen Ball aus Kork handelte, sondern um einen Stein.
Der Historiker Baruch Halpern behauptet, die Schleuder sei in der antiken Kriegsführung derart wichtig gewesen, dass sich die drei Waffengattungen die Waage hielten – ähnlich wie im Spiel Schere, Stein, Papier. Mit ihren langen Spießen und ihrer Rüstung konnten es die Infanteristen mit der Kavallerie aufnehmen. Diese wiederum war der Artillerie überlegen, da die Reiter aufgrund ihrer Schnelligkeit ein schlechtes Ziel boten. Und die Schleuderer waren wiederum eine tödliche Gefahr für die Fußsoldaten, denn ein großer, unbeholfener Soldat, der unter seiner Rüstung schwankte, war ein leichtes Ziel für die Schützen, die ihre Geschosse aus hundert Metern Entfernung abschossen. »Das war auch der Grund, weshalb während des Peloponnesischen Kriegs die Expedition der Athener in Sizilien scheiterte«, schreibt Halpern. »Thukydides schildert ausführlich, wie die schwere Infanterie der Athener in den Bergen von der leichten Infanterie der Einheimischen dezimiert wurde, die vor allem Schleudern einsetzten.«
Goliath gehört der schweren Infanterie an und erwartet einen Zweikampf mit einem ebenbürtigen Krieger. Wenn er ausruft: »Komm nur her zu mir, ich werde dein Fleisch den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren zum Fraß geben«, dann ist der entscheidende Teil »komm nur her zu mir«. Er meint damit, komm her, damit wir einen Nahkampf austragen. Als Saul versucht, David seine schwere Rüstung anzulegen und ihm sein Schwert in die Hand zu drücken, geht er von derselben Annahme aus. Er erwartet, dass David gegen Goliath kämpft wie Titus Manlius gegen seinen gallischen Herausforderer.
David denkt jedoch gar nicht daran, sich dem Ritual des Zweikampfs zu unterwerfen. Als er Saul davon erzählt, wie er als Hirte Bären und Löwen tötet, geht es ihm nicht nur darum, seinen Mut zu belegen. Er will Saul klar machen, dass er Goliath mit denselben Mitteln bekämpfen will wie die wilden Tiere: aus der Ferne und mit Geschossen.
Er rennt auf Goliath zu, denn ohne Panzer ist er schnell und wendig. Er legt einen Stein in seine Schleuder, wirbelt sie herum, bis sie sechs oder sieben Umdrehungen pro Sekunde erreicht, und zielt auf Goliaths Stirn – die verwundbarste Stelle des Riesen. Eitan Hirsch, Ballistikexperte der Israelischen Streitkräfte, berechnete unlängst, dass ein normal großer Stein, der aus einer Entfernung von 35 Metern geschleudert wurde, mit einer Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometern auf Goliaths Stirn aufgetroffen sein muss – genug, um ihn zu töten oder ihm zumindest das Bewusstsein zu rauben. Die Wucht des Aufpralls entspricht in etwa der einer Kugel, die aus einer modernen Handfeuerwaffe abgefeuert wird. »Der Stein legte die Entfernung in weniger als einer Sekunde zurück«, schreibt Hirsch. »In dieser Zeit konnte sich Goliath unmöglich schützen, und vom Fleck bewegen konnte er sich ohnehin nicht.«
Was sollte Goliath denn tun? Er trägt einen mehr als 50 Kilogramm schweren Panzer und hat sich auf einen Nahkampf eingestellt, bei dem er unbeweglich stehen bleiben, Schläge mit seiner Rüstung abwehren und mit seinem Spieß zustoßen kann. Als David auf ihn zuläuft, verspürt er vermutlich erst Verachtung und dann Verwunderung, ehe ihm ein Schrecken durch alle Glieder fährt und ihm klar wird, dass dieser Kampf einen unerwarteten Verlauf nehmen wird.
»Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Sichelschwert, ich aber komme zu dir im Namen des Herrn der Heere, des Gottes der Schlachtreihen Israels, den du verhöhnt hast«, verkündet David. »Heute wird dich der Herr mir ausliefern. Ich werde dich erschlagen und dir den Kopf abhauen. Auch alle, die hier versammelt sind, sollen erkennen, dass der Herr nicht durch Schwert und Speer Rettung verschafft; denn es ist ein Krieg des Herrn und er wird euch in unsere Gewalt geben.«
Zweimal erwähnt David das Schwert und den Speer Goliaths, als wolle er besonders betonen, dass er eine ganz andere Strategie verfolgt. Dann holt er einen Stein aus der Tasche, und in diesem Moment hält vermutlich keiner der Zuschauer zu beiden Seiten des Tals seinen Sieg für unwahrscheinlich. David ist ein Schleuderer, und Artillerie schlägt Infanterie.
»Mit seinem Schwert hatte Goliath ungefähr genauso gute Chancen gegen David wie gegen einen Gegner mit einer automatischen Pistole«, schreibt der Historiker Robert Dohrenwend.
4
Warum werden die Ereignisses dieses Tages im Elah-Tal bis heute so gründlich missverstanden? Zum einen zeigt der Zweikampf, dass wir völlig falsche Vorstellungen davon haben, was Macht bedeutet. König Saul hält David für chancenlos, weil David klein ist und Goliath groß. Für Saul ist Macht eine Frage der physischen Stärke. Er sieht nicht, dass Macht auch andere Formen annehmen kann, oder dass David gegen die Spielregeln verstoßen und Stärke durch Schnelligkeit oder ein Überraschungsmoment wettmachen könnte. Doch Saul ist nicht der einzige, der diesen Fehler macht. Auf den folgenden Seiten werden wir sehen, dass wir diesem Fehler bis heute erliegen, und dass dies Auswirkungen auf den verschiedensten Gebieten hat, angefangen von der Kindererziehung bis zur Verbrechensbekämpfung.
Daneben begehen wir jedoch einen zweiten Fehler. Saul und die Israeliten meinen zu wissen, wer Goliath ist. Sie sehen seine schiere physische Größe und schließen daraus auf seine Fähigkeiten. Aber in Wirklichkeit nehmen sie ihn gar nicht wahr. Bei genauerem Hinsehen verhält sich Goliath sonderbar. Er gilt als unbezwingbarer Krieger, doch irgendetwas scheint nicht mit ihm zu stimmen. Als er ins Tal kommt, trägt ein Diener seinen Schild vor ihm her. Im Altertum begleiteten die Schildknappen in der Regel nur die Bogenschützen in die Schlacht, denn während diese ihre Pfeile abschossen, hatten sie keine Hand frei, um ihren Schild selbst zu halten. Warum braucht Goliath, der einen Schwertkampf fordert, einen Diener, der ihm den Schild wie einem Bogenschützen trägt? Und warum fordert er David auf, zu ihm zu kommen? Warum kann er nicht selbst zu David gehen? Die biblische Erzählung betont, dass Goliath sich deutlich schwerfälliger bewegt als David – eine merkwürdige Beschreibung für einen vermeintlich unbezwingbaren Helden. Und warum reagiert er nicht viel eher, als er David ohne Schild und Rüstung den Hang herunterlaufen sieht? Er scheint gar nicht zu bemerken, was um ihn herum vorgeht. Und schließlich diese seltsame Bemerkung über den Hirtenstab: »Bin ich denn ein Hund, dass du mit Stecken zu mir kommst?« Wieso »mit Stecken?« David hat doch nur einen einzigen Stock!
Auf der Suche nach einer Erklärung für diese sonderbaren Verhaltensweisen haben Mediziner spekuliert, dass Goliath unter einer schweren Krankheit gelitten haben könnte: Er wirkt ganz wie jemand, der unter Akromegalie leidet. Ursache dieser Erkrankung ist ein gutartiger Tumor an der Hirnanhangdrüse. Dieser Tumor ist keine Seltenheit und bewirkt eine Überproduktion des Wachstumshormons, was zu »Gigantismus « führen kann. Das würde zumindest Goliaths ungewöhnliche Größe erklären. (Robert Wadlow, der größte Mensch der Welt, litt übrigens ebenfalls unter Akromegalie. Bei seinem Tod maß er über 2,70 Meter und schien nicht mit dem Wachsen aufhören zu wollen.)
Der Tumor an der Hirnanhangdrüse kann so groß werden, dass er auf den Sehnerv drückt. Daher leiden Menschen mit Akromegalie oft unter starken Sehbehinderungen oder sehen doppelt. Warum muss er von einem Begleiter ins Tal geführt werden? Weil er selbst kaum sehen kann. Warum bewegt er sich so schwerfällig? Weil er seine Umgebung nur verschwommen wahrnimmt. Warum braucht er so lange, um zu verstehen, dass sich David nicht an die Spielregeln hält? Weil er David gar nicht sieht, bis dieser schon fast vor ihm steht. »Komm nur her zu mir, ich werde dein Fleisch den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren zum Fraß geben«, ruft er, und weist damit auf seine Verwundbarkeit hin: Du musst zu mir kommen, denn ich kann dich nicht sehen. Und dann der unerklärliche Ausruf: »Bin ich denn ein Hund, dass du mit Stecken zu mir kommst?« David hat nur einen Stab, doch Goliath sieht offenbar zwei.
Was die Israeliten von ihrem fernen Hügel aus sehen, ist ein furchteinflößender Hüne. Doch in Wirklichkeit ist Goliaths Größe ein Hinweis auf seine größte Schwäche. Das ist eine wichtige Lektion für unsere Kämpfe mit allen möglichen Riesen. Die Starken und Mächtigen sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen.
Als David auf Goliath zustürmt, wird er von seinem Mut und seinem Glauben getragen. Ehe Goliath versteht, was passiert, liegt er auch schon am Boden – zu groß, zu langsam und zu kurzsichtig, um zu erkennen, wann sich das Blatt gewendet hat. Lange Zeit haben wir diese Geschichte falsch verstanden. Es wird Zeit, sie richtig zu erzählen.
Malcolm Gladwell
David und Goliath
Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen
256 Seiten,
gebunden mit
Schutzumschlag, inklusive E-Book
13,5 x 21,5 cm
D 19,99 €
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ISBN 978-3-593-39918-8
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