Wissenschaft

Auf dem Weg zu einer neuen jüdischen Ethik

Judith Butler und ihr neues Buch »Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus«

Ist eine jüdische Kritik am Zionismus möglich, vielleicht sogar ethisch zwingend? Gehören jüdische Werte des Zusammenlebens mit Nichtjuden zum Kernbestand des Judentums in der Diaspora? Ist es Zeit für eine neue jüdische Ethik, die sich gegen die von Israel ausgeübte und vom Zionismus legitimierte staatliche Gewalt sowie Israels koloniale Unterdrückung von Bevölkerungsgruppen wendet? Diese Fragen hat sich die renommierte Philosophin Judith Butler in ihrem neuen Buch »Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus« gestellt – und beantwortet.

In einer eindringlichen Auseinandersetzung mit Hannah Arendt, dem französischen Philosophen Emmanuel Lévinas, Walter Benjamin, dem Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Primo Levi sowie den Palästinensern Edward W. Said und Mahmud Darwish entwickelt Butler das, was sie als „eine neue jüdische Ethik“ bezeichnet. Eine Ethik, mit der sie sich explizit gegen die im Namen des Zionismus ausgeübte Gewalt sowie die israelische Besetzung und Besiedlung palästinensischer Gebiete wendet.

Das Buch hat eine Vorgeschichte, eine laute Debatte um Judith Butler selbst. Im September 2012 wurde ihr in Frankfurt der mit 50 000 Euro dotierte Theodor-W.-Adorno-Preis verliehen, ein Preis, den vor ihr Geistesgrößen wie Jürgen Habermas, Jacques Derrida und Norbert Elias erhalten hatten. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland und die Frankfurter Jüdische Gemeinde kritisierten die Vergabe des Preises an Butler heftig. Die Presse diskutierte die Verleihung im Vorfeld und selbst den Festakt begleiteten Tumulte vor der Paulskirche: Auf der einen Seite hielten Protestierende Schilder hoch, auf denen »Solidarität mit Israel« oder »Hamas legitim, Israel Boykott: Bin ich im falschen Film?« zu lesen war. Auf der anderen Seite solidarisierten sich Menschen mit Judith Butler, zum Beispiel mit Schildern wie »Thank you, Judith«. – Was war geschehen?

Die Kritiker warfen Butler vor allem vor, bei einem Teach-in an der Universität Berkeley 2006 die Israel-feindlichen Organisationen Hamas und Hisbollah der »globalen Linken« zugeordnet und als »soziale Bewegungen« bezeichnet zu haben. Im Vorfeld der Preisverleihung hatte Butler in Beiträgen in mehreren deutschen Zeitungen versucht, ihre Position zu präzisieren, etwa in der ZEIT. »Mir wird vorgeworfen, dass ich Hamas und Hisbollah unterstütze (was nicht stimmt), dass ich die Kampagne ›Boycott, Divestment and Sanctions‹, kurz BDS, unterstütze (was mit Einschränkungen stimmt) und dass ich antisemitisch bin (was völlig falsch ist). Vielleicht sollte man nicht so überrascht darüber sein, wie ich es bin, dass meine Gegner zu derart verleumderischen und haltlosen Vorwürfen greifen, um ihre Sache zu vertreten. (...) Auf der einen Seite also glauben Juden, die Israel kritisieren, womöglich, dass sie keine Juden mehr sein können, wenn Israel für das Judentum steht. Auf der anderen Seite setzen auch jene, die jeden Israelkritiker niederzuringen versuchen, Judentum und Israel gleich, was zu dem Schluss führt, dass der Kritiker antisemitisch oder, falls jüdisch, voller Selbsthass sein muss. Mein wissenschaftliches und öffentliches Bestreben ist es immer gewesen, diese Fessel abzustreifen.«

Butlers Buch lässt sich in Teilen auch als eine ausführliche Replik auf die aus ihrer Sicht »verleumderischen« Vorwürfe lesen. Die Philosophin ist überzeugt, dass es eine jüdische Ethik geben muss, die für die Rechte der Unterdrückten und die Anerkennung des anderen einsteht. Deshalb plädiert Butler für einen Staat, in dem Israelis, Palästinenser, Juden und Nichtjuden gleichberechtigt zusammenleben – gerade aus der Erfahrung von Diaspora und Pluralität.

Die jüdische Souveränität indes, als einzig möglichen Bezugsrahmen der israelischen Staatsräson, stellt Butler ein weiteres Mal infrage. Ihr Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einem der schwierigsten Konflikte und einem der drängendsten Probleme unserer Zeit.

 

Judith Butler ist Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley. Sie ist Begründerin der Queer Theory und eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart. Im Campus-Verlag erschienen bisher »Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen« sowie das Buch »Judith Butler. Eine Einführung« von Paula-Irene Villa.

 

Sie möchten diesen Artikel weiterverwenden? Darüber freuen wir uns. Mehr über eine Wiederverwertung erfahren Sie in unseren Nutzungsbedingungen.

15.10.2013

Wissenschaft

Am Scheideweg
Am Scheideweg
Hardcover gebunden
32,00 € inkl. Mwst.