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Wirtschaft und Gesellschaft

Das große Zwitschern

Twitter ist eine der Erfolgsgeschichten des Internets. Aber wie sieht es hinter der schillernden und mittlerweile milliardenschweren Fassade aus? Nick Bilton, Kolumnist der New York Times und Twitter-Insider, hat sich das Nest näher angeschaut.

»Was fällt Ihnen zum Thema ›blauer Vogel‹ ein?« Vor zehn Jahren hätte man auf diese Frage Antworten wie Blaumeise, Wellensittich oder Eisvogel bekommen. Und heute? Mit Sicherheit wäre die häufigste Antwort »Twitter«. Das Logo des erfolgreichen Internet-Start-ups ist längst zum bekanntesten »blauen Vogel« der Welt geworden.

Das Prinzip ist einfach: Maximal 140 Zeichen – etwa zwei Satzlängen – die in Echtzeit um die Welt schwirren. Besser gesagt: »zwitschern«. Beim Empfänger angekommen, werden die Informationen vergleichbar dem analogen Flurfunk lediglich zur Kenntnis genommen, mit regem Interesse »verfolgt« oder lösen gar eine Kettenreaktion aus. Wie im Januar 2009, als der Amerikaner Janis Krums Folgendes twitterte: »Da ist ein Flugzeug im Hudson River. Bin auf der Fähre, die versucht, die Leute aufzusammeln. Verrückt.«

Krums war wahrscheinlich der Erste, der die Nachricht von der Notlandung der A320 im Hudson in die Welt brachte – schneller als jeder professionelle Nachrichtendienst. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich seine und viele weitere Meldungen von Augenzeugen im Internet. Krums qualitativ mittelmäßiges Twitterpic landete auf den Titelseiten der großen Zeitungen. Ein »Held des Bürgerjournalismus« war geboren, Twitter erlebte eine Sternstunde.

Sieben Jahre nach der Gründung ist Twitter einer der erfolgreichsten und gleichzeitig vielleicht der demokratischste Internetdienst der Welt, der im arabischen Frühling zu einem wichtigen Instrument einer Revolution von unten wurde. Twitter hat heute mehr als 200 Millionen aktive Nutzer, 2000 Angestellte und einen Marktwert von etwa 16 Milliarden Euro: Zeit, das Unternehmen unter die Lupe zu nehmen.

Also zurück auf Start: Laut dem Gründungsmythos wurde Twitter 2006 auf einem Spielplatz in Silicon Valley erfunden. Jack Dorsey, ein junger Softwareentwickler, formulierte dort »seine« Idee. Er wollte Internetnutzern die Möglichkeit geben, ihren aktuellen Status im Netz zu verbreiten. »Höre Beatles«, »Freigetränke im Club XY«, »Ich glaube, ich spüre gerade ein Erdbeben«. Seinen gemütlichen Sweater von damals hat Dorsey längst gegen ein schwarzes Designersakko getauscht. Und in Wahrheit ist er auch nur einer von vier Internetpionieren, die Twitter das Fliegen beibrachten. An der Erfolgsgeschichte bastelten mit: Evan Williams, tougher Geschäftsführer und bekannter Blogging-Pionier; Biz Stone, veganer Creative Director von Twitter, der die Software mit Dorsey in nur zwei Wochen programmiert haben will, und Manager Noah Glass, der dem Start-up seinen »genialen« Namen gab.

Sicher ist: Zwischen der Idee aus dem Sandkasten – von denen es im Silicon Valley unzählige gibt – und einem Erfolgsmodell liegen Welten. Was aber machte aus der vagen Idee ein Multimilliarden-Dollar-Geschäft? Wie lernte der blaue Vogel fliegen?

Nach außen verläuft die Twitter-Story linear. Etwa nach dem Motto: »The only way is up!« 2007 gewinnt der Dienst den »South by Southwest Web-Award« in der Kategorie »Blogs«. Dorseys Dankesrede beläuft sich auf knapp 140 Zeichen. Im Vierteljahr melden sich die User mit rund 400.000 Tweets zu Wort. Kurz darauf wird Twitter vom Mutterkonzern Obvious ausgegliedert – das Start-up wird flügge. typo3/2008 löst Evan Williams  Jack Dorsey als CEO ab, die Twitter-Gemeinde zwitschert 100.00 Mal im Quartal. Bei den Crunchie Awards wird Twitter zum besten Start-up gekürt. Evan Williams ist in der Oprah Winfrey Show zu Gast, Jack Dorsey und Biz Stone gehören 2009 zu den Finalisten der »Time 100« – neben Barack Obama und Papst Benedikt XVI. Es ist das Jahr, in dem zahlreiche Promis und Politiker den Dienst für sich entdecken – unter ihnen Justin Bieber, Venezuelas Präsident Hugo Chávez und seine Heiligkeit, der Dalai Lama. Twitter bekommt die Aura eines »Must-have«. Auf dem Flug nach oben versuchen Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, Microsoft-CEO Steve Ballmer und Friedensnobelpreisträger Al Gore, Twitter zu kaufen. 2010 gibt es einen weiteren Wechsel an der Spitze – Evan Williams räumt seinen Sessel für Dick Costolo, einen studierten Informatiker und passionierten Comedian. Die Twitter-Nutzer zwitschern mittlerweile 50 Millionen Mal pro Tag! Die Besuche prominenter Persönlichkeiten reißen nicht ab: Russlands damaliger Präsident, Dimitri Medwedew, kommt in die Zentrale und setzt seinen ersten Tweet ab. Zwei Jahre später wird Obama seine Wiederwahl als Präsident der USA twittern. Nur ein Jahr später verzeichnet Twitter 400 Millionen Tweets täglich. So viel zum Glamour.

Im Innern des Twitter-Planeten ist es weniger glamourös. Häufige Führungswechsel, Intrigen, verratene Freundschaften, offene Machtkämpfe – in der siebenjährigen Geschichte von Twitter muss der Vogel einige Federn lassen und flog durch viele Turbulenzen. Wichtige Erkenntnisse: Eine Statusmeldung, die man ins Internet stellt, bringt bestenfalls einen kurzfristigen Erfolg, der Funke kann erst kraft der Vernetzung und der Kommunikation innerhalb der Twitter-Community zünden. Nicht jeder Entwickler ist ein guter Unternehmenschef. Freundschaften sind kein Garant für eine erfolgreiche professionelle Zusammenarbeit. Und wenn die Seite abstürzt, während ein Staatschef zu Besuch ist, kann einen das den Kopf kosten.

Woher wissen wir das alles?

Nick Bilton, Kolumnist und Reporter der New York Times, hat sich in Hunderten von Interviewstunden mit gegenwärtigen und ehemaligen Mitarbeitern von Twitter in das Innere des blauen Planeten vorgearbeitet. Zwar verweigerte ihm Twitter, vor Ort zu recherchieren, doch alle vier Firmengründer gewährten ihm persönliche Interviews. Die Instrumente, die mit Twitter entstanden waren, halfen ihm zusätzlich, wenn es darum ging, die unterschiedlichen Erinnerungen an dieselben Ereignisse mit der Realität abzugleichen.

Biltons Buch »Twitter. Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat« – dessen Titel durchaus auch über einer Staffel des Denver-Clans stehen könnte – ist ein packender Business-Thriller, geschrieben von einem, der selbst 199 629 Follower hat und weiß, wie eine Erfolgsgeschichte aus Silicon Valley aussehen kann. Biltons Buch ist nicht zuletzt eine spannende Studie am lebenden Objekt. Denn Twitters Höhenflug ist keineswegs zu Ende. Nächster Coup: der Börsengang am 7.11. Am Abend schloss die Aktie bereits 73% über dem Ausgabepreis.

 

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07.11.2013