Wirtschaft und Gesellschaft

»Das Schrumpfen wird irgendwann das Wachstum ablösen.«

Am 11. Juli 2014 ist Weltbevölkerungstag. Prof. Reiner Klingholz, Autor des Buches »Sklaven des Wachstums. Die Geschichte einer Befreiung«, hat sich im exklusiven Interview mit campus.de Gedanken über Wachsen, Schrumpfen und die Zukunft unserer Gesellschaft gemacht.

Foto: Sabine Sütterlin

Am 11. Juli jährt sich der Weltbevölkerungstag. Die UNO erwartet bis 2025 8,0 Milliarden und bis 2050 9,2 Milliarden Menschen. Das ist nach wie vor ein erheblicher Zuwachs. Doch bald danach könnte das Bevölkerungswachstum enden und sich dann sogar in ein Schrumpfen umkehren. Das können sich viele Menschen immer noch nicht vorstellen. Woran liegt das?

Reiner Klingholz: Seit Jahrhunderten kennt die Welt nur ein Bevölkerungswachstum. Doch mittlerweile zeichnet sich tatsächlich ein Ende ab. Denn überall auf der Erde entwickelt sich die Wirtschaft, selbst in den ärmsten Ländern wächst ein bescheidener Wohlstand heran und die Bildung verbessert sich. All dies sorgt dafür, dass die Nachwuchszahlen sinken. In rund 80 Ländern liegen sie bereits so tief, dass ein langfristiges Wachstum ohne Zuwanderung nicht mehr möglich ist. Vor allem aber durchlaufen die Schwellen- und Entwicklungsländer diesen demografischen Wandel deutlich schneller als einst die Industrienationen. Schon vor Ende des laufenden Jahrhunderts dürfte deshalb das große Schrumpfen beginnen.

 

In Ihrem neuen Buch, »Sklaven des Wachstums. Die Geschichte einer Befreiung«, weisen Sie bereits auf die Folgen dieser Entwicklung hin und zeigen, dass unsere Gesellschaft noch keinen »Masterplan« für eine Zukunft ohne Wachstum hat. 

RK: Das Bevölkerungswachstum in den Industrienationen war lange Zeit ein Garant für Wirtschaftswachstum. Dort hört es aber zuerst auf. Deutschland, Japan, ganz Osteuropa haben das Maximum ihrer Einwohnerzahlen schon hinter sich. Gleichzeitig altern dort die Bevölkerungen stark. Es ist insofern kein Wunder, dass auch das Wirtschaftswachstum immer geringer wird. Dies scheint die zwangsläufige Folge von wirtschaftlichem Wohlstand und niedrigen Kinderzahlen zu sein. Damit geschieht etwas, was die ökologische Bewegung seit Jahrzehnten einfordert: ein Ende des Wachstums mit all seinen negativen Begleiterscheinungen. Es geschieht aber nicht aus Vernunft oder kluger Einsicht der Menschen, sondern quasi ungewollt als Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung. Und deshalb haben wir auch keinen Plan für ein Leben ohne Wachstum. Im Gegenteil: Unser Wirtschaftssystem, unsere Sozialkassen, unsere Politik des Schuldenmachens können gar nicht ohne Wachstum funktionieren. Wir haben uns versklaven lassen vom Wachstum, müssen jetzt aber feststellen, dass wir es gar nicht mehr im ausreichenden Maße bewerkstelligen können.

 

Was müsste ein solcher Plan überhaupt beinhalten?
RK: Das wissen wir leider noch nicht so genau, denn auch die meisten Volkswirtschaftler können sich eine Gesellschaft ohne Wachstum nicht vorstellen. Es ist aber sicher, dass wir eine andere Geldpolitik brauchen, in dem die Zentralbanken nicht endlos die Geldmenge erhöhen, denn dieses Kapital soll sich ja verzinsen, muss also Wachstum erwirtschaften. Wir bräuchten zudem Unternehmensformen, die weniger abhängig von Wachstum sind als etwa Aktiengesellschaften, denen die Aktionäre davonlaufen, wenn das Wachstum endet. Genossenschaften, Stiftungsunternehmen oder Handwerksbetriebe hingegen können auch ohne Wachstum hervorragende Produkte liefern, ihre Mitarbeiter bezahlen und sich weiter entwickeln.


Ist Schrumpfen das neue Wachsen?
RK: Das Wachstum, das die Menschheit seit der Industriellen Revolution geprägt hat und das für die meisten zu einer Konstante geworden ist, erlahmt zumindest in den Industrienationen. Die Entwicklungs- und Schwellenländer haben sicher noch eine Wachstumsphase vor sich, aber auch dort wird sie enden, wenn erst einmal die Zahlen der Erwerbstätigen sinken und die Bevölkerungen altern. In China, Thailand oder Brasilien wird das bald beginnen. Insofern wird das Schrumpfen irgendwann das Wachstum ablösen. Und das ist so ungefähr die beste Nachricht, die der Planet seit langem vernommen hat. Denn das Wachstum, das wir heute noch erleben, ruiniert die Lebensgrundlagen auf der Erde. Wir müssen nur noch Modell entwickeln, die ein Wohlergehen der Menschen ohne Wachstum sichern. Das ist der schwierigste Teil.


Worüber sollte sich jeder Einzelne am Weltbevölkerungstag zumindest kurz Gedanken machen?
RK: Dass sich die armen Länder wirtschaftlich entwickeln müssen und dabei zwangsläufig weiteren Schaden an der Umwelt anrichten. Dies ist aber notwendig, weil ansonsten das dortige Bevölkerungswachstum kein Ende findet. Man muss versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten, verhindern lässt er sich nicht.
 
 

Zur Person:

Reiner Klingholz, Chemiker, Molekularbiologe und Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, kennt sich mit Dynamik aus. Seit 30 Jahren beobachtet der gefragte Autor komplexe Zusammenhänge in der Gesellschaft und stellt die entscheidenden Fragen für unsere Zukunft.

 

 

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09.07.2014

Wirtschaft & Gesellschaft

Sklaven des Wachstums - die Geschichte einer Befreiung
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