In Ihrem neuen Buch »Eidesbruch« identifizieren Sie die »sieben Todsünden« der modernen Medizin. Was hat Sie zu einer solch harten Abrechnung mit Ihrem eigenen Berufsstand bewegt?
Michael Imhof: Das Buch soll eine Standortbestimmung sein, eine Inventur, jedoch keine querulatorische Abrechnung. Ich habe den Versuch unternommen, Innen- und Außenansichten dieser modernen Medizin zu skizzieren, und entwerfe dabei ein ambivalentes Bild einer janusgesichtigen Medizin: Den gewaltigen und segensreichen Fortschritten auf der einen Seite steht eine zunehmende Dominanz ökonomischer, ja kommerzieller Faktoren gegenüber, welche die ethische Basis dieser Medizin zu erodieren drohen. Diesen Tendenzen muss Einhalt geboten werden.
Ihre These: Es wird oft nur noch getan, was sich rechnet. Wer trägt eigentlich die Verantwortung für dieses (zumindest in Teilen) inhumane Gesundheitssystem?
Michael Imhof: Was wir derzeit erleben, ist eine Bankrotterklärung des Krankenhausfinanzierungssystems: Die Länder ziehen sich zunehmend aus der Krankenhausfinanzierung zurück. Krankenhäuser müssen ihre Betriebs- und Investitionskosten aus den Erlösen der Fallpauschalen erwirtschaften. Sie unterliegen der Technokratie dieses statistisch gemittelten Fallpauschalensystems, das die alltägliche Versorgungswirklichkeit in den Krankenhäusern nur unzureichend berücksichtigt. Vor allem kleinere Krankenhäuser der Grundversorgung schreiben rote Zahlen und stehen am Rande des Ruins. In dieser Situation stellt die Maximierung von einfachen und weitgehend standardisierten Eingriffen das Maß aller betriebswirtschaftlichen Logik dar: Was sich rechnet, wird möglichst vielen Patienten angeboten. Das betriebswirtschaftliche Kalkül bestimmt also zuallererst die Indikation und weniger die wissenschaftliche Evidenz. Der Mensch und seine Krankheit werden zum Rohstoff eines gewinnorientierten Marktgeschehens degradiert. Dies stellt einen Bruch grundlegender ethischer Maximen dar, einen Bruch des Nichtschadensprinzips, einen Bruch des ethischen Grundprinzips des »nihil nocere«.
Ethische Umbrüche in der Medizin, Gesundheit als handelbare Ware, unrentable Patienten: Kann die Katastrophe – eine vollständig kommerzialisierte Medizin – überhaupt noch verhindert werden?
Michael Imhof: Eine weitgehend kommerzialisierte Medizin würde zu einem Monster pervertieren und die Medizin würde zum Marktplatz verkommen, wie es der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie einmal in großer Schärfe formulierte. Ökonomie im Krankenhaus? – Ja bitte! Denn ökonomische Vernunft zielt auf den sparsamen und betriebswirtschaftlich sinnvollen Umgang mit den knappen Ressourcen und dem Geld der Versicherten. Ökonomie im Dienste der Menschen also und nicht umgekehrt: Menschen und Patienten im Dienste einer alles dominierenden Ökonomie. Die Barbarei einer kommerzialisierten Medizin fängt da an, wo Menschen Eingriffe und Untersuchungen ausschließlich aus Gründen der Gewinnmaximierung aufgedrängt werden, die ihnen mehr schaden als nützen. Vor diesem Hintergrund ist die Verdoppelung von Wirbelsäuleneingriffen im Zeitraum von 2005 bis 2010 nicht ausschließlich aufgrund der demografischen Entwicklung zu erklären, sondern ein anschauliches Beispiel für eine solche fortschreitende Kommerzialisierung.
Eines der modernen Übel sind aus Ihrer Sicht die Fallpauschalen. Krankenhäuser rechnen keine Tagessätze mehr ab, sondern verdienen weitgehend aufgrund von Diagnosen. Eine Folge: In Deutschland werden pro Jahr 200.000 Hüftgelenke eingesetzt – im restlichen Europa sind es 300.000. Sind die Deutschen so gebrechlich oder ist die Fallpauschale bei Hüftgelenken so attraktiv?
Michael Imhof: Die Unterfinanzierung der Krankenhäuser ist ein erklärtes Ziel der Fallpauschalensystematik. Die Preise für die einzelnen Fallpauschalen orientieren sich an statistisch ermittelten Durchschnittswerten, was zwangsläufig zu Existenzproblemen in oft kleineren Kliniken mit überdurchschnittlichen Kosten führen muss. Die bedarfsgerechte Versorgung wird dabei aus den Augen verloren. Ziel ist vielmehr eine »Marktbereinigung« des Krankenhausmarkts. Die Hauptziele bestehen im Bettenabbau und der Schließung von Krankenhäusern. Von den verantwortlichen Stellen in der Politik wird aber allzu oft vergessen, dass Krankenhäuser der Daseinsvorsorge und dem Gemeinwohl dienen. Während die Wasserversorgung in öffentlicher Hand bleibt, während städtische Schwimmbäder, Theater und Opernhäuser von der öffentlichen Hand subventioniert werden, überrollt eine Privatisierungswelle die Krankenhäuser: Sie sollen kostendeckend arbeiten und sogar satte Gewinne für Investoren und Aktionäre abwerfen. Vor diesem Hintergrund werden die rapide steigenden lukrativen Eingriffe an den Gelenken und der Wirbelsäule verständlich. Hinter diesen Zahlen versteckt sich eine mathematisch korrekt kalkulierende kommerzielle Logik. Vor dem individuellen Schicksal vieler Patienten entpuppt sich diese Logik aber als ein Wahnwitz, ein Widerspruch in sich.
Eine andere Baustelle sind individuelle Gesundheitsleistungen (IGe-Leistungen): Ebenfalls Nepp am Patienten?
Michael Imhof: IGe-Leistungen sind ein weiteres Beispiel für die fortgeschrittene Kommerzialisierung der Medizin, ein Beispiel für Geldgier und Habsucht. Jeder vierte Versicherte soll von seinem Arzt schon eine solche IGe-Leistung angeboten bekommen haben. Wartezimmer werden zu Verkaufsmessen mit einer Infotainment-Atmosphäre umgewandelt. Patienten werden von ihrem Arzt oft regelrecht bedrängt, eine IGe-Leistung zu kaufen, was in den Patienten oft das Gefühl von Betroffenheit, Verwirrung und Ratlosigkeit auslöst und ihr Vertrauen zu ihrem Arzt erschüttert.
Sie waren viele Jahre als Chirurg an einer Universitätsklinik und haben den Wandel hautnah erlebt. – Was war der Punkt, an dem Sie Ihren »Arztkoffer« gepackt haben?
Michael Imhof: Ich persönlich habe vor allem die vielfältigen Hemmnisse für wissenschaftliches Arbeiten, die auf weite Strecken fehlende Unterstützung und eine zunehmende administrative Gängelung als unerträglich empfunden. Insofern fiel mir der Schritt in die Unabhängigkeit recht leicht. Diese berufliche Entscheidung stellte damals vor bald 20 Jahren durchaus ein Wagnis dar. Sie bestätigt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in unserem Gesundheitswesen aber immer wieder als richtiger Schritt. In meinem Buch rechne ich nicht mit der Ärzteschaft insgesamt ab. Ich sehe mich selbst als einen Vertreter dieser Medizin, die meine Heimat ist und bleibt, und ich nehme meine Person keineswegs von der Kritik aus, wie man in dem Buch ja lesen kann. Meine Kritik wird von vielen Kollegen bestätigt, die mir ihre Zustimmung versichern.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Imhof.
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