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Wirtschaft und Gesellschaft

»Die Alternative zu Bildung sind Chaos, Elend, ungebremstes Bevölkerungswachstum und immer größere Probleme.«

Die Konfliktlinie des 21. Jahrhunderts verläuft zwischen den Wissensgesellschaften und denen, die den Zugang zu Bildung be- oder gar verhindern, sagen die Bevölkerungsexperten Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz. Was das bedeutet, erklären sie im Interview mit campus.de

 

»Bildung befähigt uns, über den eigenen Horizont zu sehen, und unseren Lebensstil bewusst zu wählen. Besser Qualifizierte mischen sich stärker in politische Entscheidungsprozesse ein und fördern die Demokratisierung« – so steht es in Ihrem Buch. Lässt das den Umkehrschluss zu, dass Gesellschaften, mit begrenzten Bildungsmöglichkeiten in der Regel weniger demokratisch sind?

Reiner Klingholz: Vom Altertum bis ins Mittelalter wurden die ungebildeten Massen von despotischen Eliten beherrscht. Wo immer erste Ansätze von Demokratie entstanden – etwa im antiken Athen oder im Florenz der Renaissance – konnten zumindest gewisse Teile der männlichen Bürger Lesen und Schreiben. Ihnen fiel es leichter, den Mächtigen auf die Finger zu schauen und sie verlangten nach mehr Mitsprache. Je mehr sich Bildung in der Bevölkerung ausbreitete, desto eher hatten Demokratien eine Chance. In der heutigen Welt zeigt sich ein klarer statistischer Zusammenhang dafür, dass die Bildung möglichst vieler Menschen aus allen Schichten eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist, auch wenn es nicht immer eine Garantie dafür ist.


Es gibt direkte und indirekte Gründe dafür, dass Bildung gut für die Demokratie ist. Bildung fördert direkt die Fähigkeit, sich Informationen zu beschaffen, seine eigenen Ansichten zu äußern, sich auf sachliche Diskussionen einzulassen und nach Kompromissen zu suchen. All das braucht eine lebendige Demokratie. Indirekt wirkt Bildung über die wirtschaftliche Entwicklung. Bildung fördert den Wohlstand und derartige Gesellschaften können sich den »Luxus« der Demokratie besser leisten. Auch autokratisch regierte Länder wie Singapur oder China, die massiv in Bildung investiert und einen raschen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt haben, bewegen sich langfristig in Richtung mehr Demokratie.

Im globalen Wettbewerb haben Länder mit geringem Bildungsstandard wenige Chancen, sagen sie. Können diese Länder sich selbst aus der Misere befreien oder bedarf dieses Problem einer globalen Lösung?
Wolfgang Lutz: Historisch gesehen haben es viele Länder ohne fremde Hilfe geschafft. Wir beschreiben in unserem Buch Beispiele wie Finnland, das vor 1900 eine der ärmsten Regionen Europas war und dann durch eine massive Bildungsanstrengung nicht nur zum Pisa-Sieger sondern auch zu einer der innovativsten Industrienationen wurde. Oder der kleine Inselstaat Mauritius, der noch in den 1960er Jahren als Musterbeispiel für den Teufelskreis aus Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung galt. Heute ist er dank eines enormen Bildungsschubes das erfolgreichste Land Afrikas. Ebenso verdanken die asiatischen Tigerstaaten ihren Aufstieg der Tatsache, dass sie ihre eigenen bescheidenen Mittel einst massiv in die Basisbildung der breiten Bevölkerung investiert haben.


In vielen anderen Ländern – vor allem in Afrika  und im Süden und Westen Asiens – ist das nicht geschehen. Dort blieben nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung aus, sondern auch die Kinderzahlen hoch, so dass bis heute die Bevölkerung sehr stark wächst und die Lösung aller Probleme immer schwieriger wird. Die Menschen werden unzufrieden, es kommt zu Konflikten und zu Flüchtlingsströmen, die im Grunde gar nicht überraschend sind.
Der wichtigste Faktor für sinkende Geburtenraten ist die Bildung von Frauen. Absolvieren sie mindestens eine Sekundarschule, bekommen sie deutlich weniger Kinder, sie und ihr Nachwuchs sind gesünder und sie werden unabhängiger von ihren Männern, weil sie besser informiert sind und ein eigenes Einkommen erwirtschaften können. Bildung ist die beste und wirkungsvollste Entwicklungshilfe. Dafür brauchen die am wenigsten entwickelten, meist bitterarmen Länder heute dringend Hilfe von außen. Die Welt kann nicht warten, bis sie dies in einigen Jahrzehnten vielleicht einmal aus eigener Kraft schaffen. Bis dahin werden ihre Bevölkerungen noch um das Drei- bis Fünffache gewachsen sein, die Armut wird sich ebenso ausbreiten wie die Zahl der Konflikte. In allen entwickelten Staaten gibt es aus gutem Grund schon lange eine Schulpflicht und ein Recht auf Schule für alle Kinder bis zum Alter von 16 Jahren. Dies muss für alle Kinder der Welt in gleicher Weise gelten.

Nur ein geringer Teil der internationalen Entwicklungshilfeausgaben gehen in die Bildung. Haben wir das Problem noch nicht erkannt?
Reiner Klingholz: Auf dem Papier schon. Die neuen Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen fordern genau dies. Das Problem ist, dass die Ziele bisher nicht umgesetzt werden. Ganze zwei bis vier Prozent der globalen Entwicklungshilfe fließen in Basisbildung, damit können unmöglich alle Kinder eine Sekundarschule absolvieren. Das meiste Geld fließt in große Infrastrukturprojekte, die den lokalen Potentaten gefallen, die der Korruption Vorschub leisten und für die Geberländer exportfördernd sind. Der Bau einer vernünftigen Schule in Mali oder Pakistan, die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind in diesem Sinne nicht attraktiv. Den Erfolg von Bildungsanstrengungen spürt man erst in zehn bis zwanzig Jahren, da weiht ein heutiger Präsident lieber eine neue Autobahn ein. Dennoch oder gerade deshalb schreiben wir, dass Investitionen in Basisbildung die wichtigste Hilfe zur Selbsthilfe sind und daher absolute Priorität in der internationalen Entwicklung bekommen sollten.

Beispielsweise gibt es in einigen arabischen oder afrikanischen Ländern einen Jugendüberhang, der keinen Platz in der Gesellschaft und keine auskömmliche Beschäftigung findet. Was ist auf Dauer die Konsequenz daraus?
Wolfgang Lutz: Das Hauptproblem dieser Länder ist, dass die Bevölkerung schneller wächst als die Chancen der Menschen, vor allem die Chancen, einen Job zu bekommen. Viele junge Erwachsene sehen keine Perspektive, aber im Internet erfahren sie, dass es den Menschen anderswo viel besser geht. Vor allem die Männer unter ihnen neigen dann teilweise zu gewaltsamen Konflikten, sie lassen sich radikalisieren und fallen auf religiöse Bauerfänger rein, die ihnen erklären, dass die Feinde irgendwelche Andersgläubigen sind. Diese Mixtur führt zum Kampf der Bildungskulturen, von dem wir schreiben.
 
Wer oder was hemmt die Verbreitung von Bildung in Ländern wie Pakistan, Ägypten oder auch in Westafrika?

Reiner Klingholz: Die meisten dieser Länder waren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein Spielball der Kolonialmächte, die nicht in Breitenbildung investiert haben. Sie hatten regelrecht Angst vor einer selbstständigen Bevölkerung. In den meisten dieser Staaten kamen mit der Unabhängigkeit häufig autoritäre Führer an die Macht, die das gleiche Ziel verfolgten: Sie wollten sich mit kleinen Bildungseliten an der Macht zu halten und hatten kein Interesse daran, das Volk durch Bildung zu ermächtigen. In den meisten dieser Länder hat sich die Lage jedoch in den letzten Jahren erfreulicherweise verbessert und die jüngere Generation ist besser gebildet als die ältere. Bedrohlich dagegen sind jene Strömungen aus Kreisen fundamentalistischer Religionsführer oder von Terrorgruppen wie dem IS oder Boko Haram, die jede moderne, naturwissenschaftliche Bildung behindern, die Jungen in Koranschulen verdummen lassen und Mädchen ganz von der Bildung ausschließen.

Was hat Martin Luther mit ihrem Buch zu tun?

Wolfgang Lutz: Martin Luther war der erste Mensch, der aktiv und erfolgreich für eine Demokratisierung von Bildung gekämpft hat. Er wollte, dass sich jeder Mensch aus der Lektüre der Heiligen Schrift selbst seinen Weg zum Heil erarbeitet. Dafür musste Luther die Bibel in eine Sprache übersetzen, welche die Menschen verstanden. Vor allem musste er etwas tun, damit sie erst einmal Lesen und Schreiben lernten. Deshalb forderte Luther die Alphabetisierung auch des »geringsten Handwerkers« und »jedes Mägdeleins«. Das war weltgeschichtlich neu.


Interessanterweise lässt sich heute zeigen, dass zunächst  die protestantischen Länder im Laufe der folgenden Jahrzehnte – unterbrochen nur durch den 30-jährigen Krieg – diese Bildungsreformen umgesetzt haben und dadurch auch wirtschaftlich erfolgreicher waren. Der Aufstieg der Niederlande und Großbritanniens, die Industrielle Revolution, der spätere Erfolg der Vereinigten Staaten, die Verbesserung der Lebensbedingungen, die immer höhere Lebenserwartung, alle dies lässt sich auf die Bildung breiter Bevölkerungskreise zurückführen und damit letztlich auf die Reformation. Luther selbst hatte das gar nicht im Blick. Als Kind des Mittelalters hätte ihn die folgende Entwicklung hin zur Moderne vermutlich zutiefst verunsichert.

Sie beschreiben in ihrem Buch »Wer überlebt?« unterschiedliche Szenarien zur Zukunft der Menschheit bis zum Ende des 21. Jahrhunderts in Abhängigkeit künftiger Bildungsinvestitionen. Können wir die aktuellen und künftigen Krisen nur überleben, wenn wir den Fokus stärker auf das Thema Bildung setzen?
Beide: Die Menschheit steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor den größten Aufgaben ihrer Geschichte. Sie muss die Armut besiegen, das Bevölkerungswachstum zähmen, den Klimawandel bekämpfen und für Frieden in einer Welt sorgen, die im Moment aus allen Fugen zu geraten scheint. Ohne ausreichende Bildung für die Menschen in allen Ländern sind diese Probleme nicht lösbar. Die Alternative zu Bildung sind Chaos, Elend, ungebremstes Bevölkerungswachstum und immer größere Probleme. Das Dumme ist, dass Bildung Zeit braucht, um ihre Wirkung zu entfalten. Bildung löst akut kein einziges der Probleme, die heute die Zeitungen füllen. Aber auf längere Sicht ist sie ohne Alternative.

 

Dr. Reiner Klingholz ist seit 2003 Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und einer der renommiertesten Demografie-Experten Deutschlands.

 

Prof. Dr. Wolfgang Lutz, einer der weltweit führenden Demografen, ist Direktor des World Population Program am IIASA und des Vienna Institute of Demography sowie Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

 

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01.03.2016

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