Die Europäische Union hat 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Das Nobel Komitee erinnert damit daran, dass die EU trotz aller Krisen eine Erfolgsgeschichte ist. Stimmen Sie dem zu?
Wilfried Loth: Ja, mit Nachdruck! Die EU hat dafür gesorgt, dass ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich unmöglich geworden ist und damit auch ein Krieg zwischen ihren Mitgliedsländern. Das ist eine Leistung, die man gerade 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs nicht gering schätzen sollte. Außerdem hat sie in hohem Maße zur Befestigung der Demokratie in den südlichen Mitgliedsländern und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks beigetragen, und sie fördert mit ihrer Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik die demokratischen Kräfte an ihren östlichen Rändern. Auch das kann man gar nicht genug würdigen.
In Ihrer ersten Gesamtdarstellung der europäischen Geschichte »Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte«, zeichnen Sie den Prozess der europäischen Einigung nach. Ist der politische Grad der Einigung eigentlich in den Köpfen der Europäer angekommen?
Wilfried Loth: Nein, den Europäern ist in der Regel nicht bewusst, wie stark die wirtschaftliche Verflechtung unter den Mitgliedsstaaten der EU unterdessen geworden ist, wie stark die wirtschaftliche Entwicklung von europäischen Vorgaben und Entscheidungen abhängig ist und wie ohnmächtig auch die größten Mitgliedsstaaten sind, wenn sie in der Weltpolitik allein, das heißt: ohne Abstimmung mit ihren Partnern, agieren wollen.
Was sind die Erfolge der EU, über die sich jeder Bürger Europas bewusst sein sollte?
Wilfried Loth: Die Sicherung des Friedens, des relativen Wohlstands und damit der demokratischen Ordnung, schließlich auch die Sicherung von Einfluss in der Welt. All das wäre ohne die EU weit weniger zu haben.
Was sind die Antriebskräfte, die heute noch auf die Europäische Union wirken?
Wilfried Loth: Heute sind wirtschaftliche Produktivität, sozialer Konsens und demokratische Stabilität ohne die Grundlagen des Gemeinsamen Marktes nicht mehr denkbar. Die gemeinsamen Interessen an Friedenssicherung überwiegen potentielle nationale Rivalitäten bei weitem. Und die Handlungsfähigkeit auf globaler Ebene hängt mehr denn je vom gemeinsamen Auftreten der Europäer ab.
Der Untertitel Ihres Buches lautet: Eine unvollendete Geschichte. Welche Perspektiven sehen Sie aus heutiger Sicht noch für die EU?
Wilfried Loth: Die EU ist noch nicht »fertig«; sie wird wohl auch nie fertig werden. Gegenwärtig stehen drei Aufgaben an, die bewältigt werden müssen: die Überwindung der Wirtschaftskrise und insbesondere der hohen Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten des Südens, die Entwicklung von Instrumenten, mit denen sich eine neue Staatsschuldenkrise verhindern lässt, und eine Stärkung von Transparenz und demokratischer Kontrolle auf der europäischen Ebene. Von der Bewältigung dieser Aufgaben hängt es ab, wie die EU in zehn Jahren aussehen wird.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Loth.
Zur Person:
Wilfried Loth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Als langjähriger Vorsitzender der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Europäischen Kommission und Präsident des Deutsch-Französischen Historikerkomitees ist er einer der besten Kenner der Geschichte der europäischen Integration.