Wirtschaft und Gesellschaft

Europa 5.0: »Wir haben die Wahl«

Europa kann mehr sein als die Summe seiner Teile. Und Europa kann mehr sein als die Eurokrise, sagen Luc Frieden, Nicolaus Heinen und Stephan Leithner. Ein Gastbeitrag.

Luc Frieden

Nicolaus Heinen

Stephan Leitner

»Europa 5.0«

Ein Gastbeitrag.



Seit über sechs Jahren steckt Europa in der Krise. Dies allein wäre noch nicht beklagenswert, haben wir Europäer doch in der Vergangenheit schon wahrlich größere und schlimmere Schieflagen durchlaufen und gemeinsam erfolgreich überwunden. Die aktuelle Krise erscheint gleichwohl fundamentaler. Immer heftiger werden die Reibereien und Misstöne zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Immer größer wird die politische Distanz zu einzelnen Ländern – sei es zu Griechenland oder zum Vereinigten Königreich. Und immer stärker werden die gesamtwirtschaftlichen Divergenzen innerhalb des gemeinsamen Währungsraums, der Eurozone. Bürger und Unternehmen blicken mit großer Sorge und Skepsis auf die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa. Sie merken: Die Versprechen von Einheit und Wohlstand, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, scheinen heute längst nicht mehr so sicher wie einst. Besonders schwer wiegt dabei, dass den Ländern Europas ein klares Ziel und der Wille fehlen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, die Probleme von heute anzupacken und gemeinsam zu lösen.

Diese Haltung ist für Europa keinesfalls typisch, denn das Projekt der europäischen Einigung entstand einst aus Überzeugung. Es war ein Aufbruch mit einer klaren Vision von Frieden, Stabilität und Wohlstand. Von dieser Aufbruchstimmung ist heute jedoch nichts mehr zu spüren – ganz zu schweigen von echter politischer Führungsstärke, die zumindest eine klare Richtung vorgeben würde. Und so bleibt die politische und wirtschaftliche Zukunft unseres Kontinents ungewiss.

In diesem Vakuum braucht es entschlossenes Handeln – und neue Weichenstellungen für ein Europa jenseits des Krisenalltags.

Damit solche Weichenstellungen gelingen, müssen Politiker, Unternehmen und Bürger mutige Entscheidungen treffen. Mutige Entscheidungen brauchen wir heute in Europa allemal, denn zu viele offene Fragen liegen vor uns. Politische Entscheidungsträger fragen sich: Welche Gestaltungsmöglichkeiten gibt es noch in einem Umfeld wachsender Spannungen innerhalb und zwischen den 28 Mitgliedstaaten? Unternehmer fragen sich: Welche Wachstumsaussichten hat unser Wirtschaftsraum in einem globalen Umfeld, das sich so rasch wandelt? Bürger fragen sich: Welche Chancen auf Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum und Wohlstand bleiben mir? Und über allem schwebt die Frage: Stößt nicht jede politische und wirtschaftliche Integration souveräner Staaten irgendwann an ihre Grenzen?

Wir, die Autoren, hören diese Fragen nahezu täglich in beruflichen wie privaten Gesprächen mit unseren Kunden, Mitarbeitern und Mitmenschen. Wir vernehmen sie auch als Teil einer breiten und zunehmend besorgten öffentlichen Debatte, die zeigt, wie tief die allgemeine Verunsicherung über die Zukunft Europas mittlerweile sitzt. Unter Ängstlichkeit und Befangenheit kann man die Gegenwart jedoch nicht gestalten – und erst recht nicht die Zukunft gewinnen. Denn gerade dann, wenn die Wachstumsraten niedrig sind und die Perspektiven trübe, gehen Menschen ungern ins Risiko. Ohnehin neigt der Mensch dazu, die Bedürfnisse von heute stärker zu gewichten als die Bedürfnisse von morgen. Bei drohenden Verlusten handelt er besonders risikoavers, wie die Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie zeigen. Je unsicherer die Gegenwart, desto vorsichtiger und ängstlicher blickt er der Zukunft entgegen – und verschließt sich so dem notwendigen Wandel. Und so verwundert es nicht, dass in wirtschaftlich wie politisch unsicheren Zeiten insbesondere jene Stimmen leichter das Gehör der Menschen finden, die allein vor den Risiken und Gefahren von Veränderungen warnen – und zugleich die Chancen ignorieren, die der Wandel bieten kann. Die Lösungen, die sie vorschlagen, sind in der Regel greifbar und konkret, weil altbekannt und rückwärtsgewandt. Sie beschwören damit die vermeintliche Sicherheit und Stabilität vergangener Zeiten. Die Befürworter des machbaren Wandels haben es hingegen schwerer. Sie müssen nämlich immer für etwas argumentieren, das noch vor uns liegt – die Zukunft, die per se ungewiss ist. Dies bedeutet nicht, dass in einem Umfeld, das sich dem Wandel verschließt, Veränderungen nicht trotzdem stattfinden. Sie erfolgen jedoch rein reaktiv – und zwar dann, wenn der Problemdruck so stark ist, dass letzte Widerstände gegen den Wandel aufbrechen, oft in letzter Minute, bisweilen chaotisch und unkoordiniert und zumeist unter hohen materiellen, politischen und sozialen Kosten.

Bei diesem pathologischen Lernen führen die Menschen nicht. Die Umstände zwingen sie, zu folgen. In einem globalen Umfeld, das sich immer schneller wandelt und in dem erlangtes Wissen immer schneller veraltet, ist passives Abwarten und Hinnehmen jedoch die falsche Wahl – vor allem für Europa. Gerade weil sich die Welt bewegt, müssen wir Europäer entschiedener handeln als je zuvor. Mehr noch: Gerade weil sich vieles ändert, gibt es so viele Möglichkeiten zu handeln – und Ansatzpunkte, diesen Wandel konstruktiv zu gestalten und am Ende für sich zu entscheiden. Damit das gelingt, müssen die europäischen Gesellschaften in all ihrem Handeln nicht nur an heute, sondern auch an morgen und übermorgen denken. Genau das möchten wir in unserem Buch tun. Wenn wir auch morgen und übermorgen in Wohlstand leben wollen, müssen wir im Hier und Jetzt verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen.

Heute stellen wir die Weichen, die die Optionen und unseren Handlungsspielraum von morgen bestimmen

Unser Buch »Europa 5.0« soll zeigen, dass die aktuelle Lage unserem Kontinent auch Chancen bietet, die Dinge zum Guten zu wenden und die derzeitige Blockade Europas aufzulösen. Dabei möchten wir weder klagen noch anklagen, denn Angstbücher zu Europa gibt es schon genug. Vielmehr soll unser Buch konstruktive Lösungsansätze aufzeigen, die über tagespolitische Einfälle hinausgehen. Wir wollen in unserem Buch eine konkrete Strategie, ein Geschäftsmodell aufzeigen, mit dem Europa wieder zukunftsfähig wird – nicht nur die Währungsunion, sondern der gesamte Kontinent. Den Begriff Geschäftsmodell wählen wir bewusst, denn unsere Vorschläge richten sich klar daran aus, jene Ziele wiederzubeleben, die neben Frieden und Freiheit zum Selbstverständnis europäischer Integration zählen: nachhaltiges Wachstum und breiter Wohlstand. Diese Grundfesten sind heute keinesfalls mehr für alle Bürger Europas gleichermaßen selbstverständlich. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass Europa mit entschlossenem und gemeinsamem Handeln wieder zu der Vorteilspartnerschaft werden kann, die es einst war. Unser Geschäftsmodell kann dazu beitragen, das europäische Versprechen von Wachstum, Beschäftigung und gesichertem Wohlstand mit neuer Glaubwürdigkeit zu erfüllen. Dann schöpft auch die Bevölkerung neues Vertrauen in das Projekt Europa. Dann geht es wieder gemeinsam voran. Dies ist freilich alles andere als einfach, wenn die Verhältnisse unübersichtlich sind. Möglich ist es trotzdem. Allzu oft übersehen wir nämlich im derzeitigen Krisenumfeld, dass Europa schon in der Vergangenheit zu beachtlichen Quantensprüngen fähig war – und das bisweilen unter den widrigsten Umständen. Rückblickend lassen sich vier Stufen der Integration identifizieren.

Europa 1.0: Das Friedensprojekt. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die erste Stufe der europäischen Integration. Angetrieben von den Einigungsbemühungen der  kriegsgezeichneten Gesellschaften unseres Kontinents entstanden erste Initiativen des zwischenstaatlichen Dialogs – und mit dem Europarat eine erste gemeinsame Institution. Zwar scheiterten Initiativen für eine gemeinsame Verteidigungspolitik trotz der steigenden Bedrohung aus dem Osten. Doch zugleich einigten sich sechs Länder (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande) Anfang der 1950er Jahre darauf, ihre Kohle- und Stahlindustrien im Rahmen der sogenannten Montanunion unter eine gemeinsame Aufsicht zu stellen. Dies wiederum legte die Grundlage für die nächste Stufe.

Europa 2.0: Wirtschaftliche und politische Integration. Die Montanunion war zunächst eine Präferenzzone für Kohle und Stahl. Ihr Erfolg war so groß, dass 1957 im Rahmen der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde, die eine Freihandelszone für alle Güter vorsah. 1968 wurde diese zur Zollunion mit gemeinsamen Außenzoll, und schließlich 1993 mit dem Vertrag von Maastricht zum Gemeinsamen Markt mit allen vier Marktfreiheiten für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen ausgebaut. Gemeinsame Institutionen – die Kommission als Exekutive, Ministerrat und Europäisches Parlament als Legislative und gemeinsame Gerichtshöfe als Judikative – begleiteten die wirtschaftliche Integration. Freilich gab es dabei auch Hindernisse – etwa die große Blockade im Ministerrat Mitte der Sechzigerjahre, als Frankreich sich gegen die Einführung des Mehrheitsprinzips bei Abstimmungen sperrte (Politik des leeren Stuhls) oder die Stagnation bei der wirtschaftlichen Integration in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren (Eurosklerose). Doch auch diese Rückschläge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wohlstand durch zunehmenden Handel und Austausch insgesamt stetig wuchs.

Europa 3.0: Erweiterung. Der Erfolg von Europa als Friedensprojekt und Wirtschaftsgemeinschaft führte dazu, dass immer mehr Länder Mitglieder des Clubs werden wollten. Sukzessiv vergrößerte sich die Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf heute 28 Staaten. Die größte Erweiterungsrunde war die EU-Osterweiterung um insgesamt zehn Staaten im Mai 2004 – eine logische Folge der überwundenen Teilung Europas. All dies hat den Einflussbereich der heutigen EU stark erweitert und die Vielfalt im Wirtschaftsraum weiter erhöht.

Europa 4.0: Gemeinsame Währung. Den bislang letzten großen Schritt brachte die Einführung des Euro im Jahr 1999. Die gemeinsame Währung war zunächst durchaus ein großer Erfolg – auch wenn aus heutiger Sicht das institutionelle Rahmenwerk alles andere als geeignet war. Spätestens die Eurokrise hat jedoch die Grenzen der europäischen Währungsunion aufgezeigt. Diese vier Generationen europäischer Integration zeigen, dass große Schritte möglich sind – auch wenn Erfolg und Misserfolg, Fortschritt und Scheitern oft eng beieinanderlagen und der große Wurf nicht selten überhaupt erst durch eine vorangegangene Krise möglich wurde. Entscheidend für diese großen Schritte war vor allem
dreierlei: der Wille, sich mit den Fehlentwicklungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen und aus ihnen zu lernen, die Fähigkeit, sich auf neue Rahmenbedingungen einzustellen, und nicht zuletzt ein langer Atem, um Differenzen zu überwinden und gemeinsam voranzuschreiten. Ebendies brauchen wir Europäer auch heute. Angesichts der aktuellen Blockade scheint der nächste große Schritt nach vorne im Sinne einer umfassenden Änderung der europäischen Verträge jedoch in weiter Ferne. Viel ist in diesen Tagen stattdessen von Stagnation die Rede, gar von Spaltung und Rückschritten. Angesichts der Ziele, Ideale und Visionen, die Europa einst verkörperte, und der Errungenschaften, die es nach zwei Weltkriegen hervorbrachte, können Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dies nicht einfach hinnehmen. Doch welche Alternative bleibt Europa, um die Blockaden zu lösen und das Versprechen von Wachstum und Wohlstand neu zu beleben? Möglicherweise liegt die Lösung näher, als wir in diesen Tagen vermuten. Der Schlüssel liegt weniger in einem neuen Vertragswerk als in einer besseren Nutzung des bestehenden institutionellen Rahmens Europas. Gelingt es den Mitgliedstaaten, ihn mit klugen Reformen, vertiefter Zusammenarbeit und gemeinsamem globalen Handeln auszufüllen, kann Europa wieder auf den Pfad des Erfolges zurückfinden und zur Vorteilsgemeinschaft von einst werden. Leicht wird all dies nicht. Dies gilt im Besonderen angesichts der großen Herausforderungen, die vor uns Europäern liegen: Die zunehmende globale Konkurrenz der Schwellenländer, die päischen Währungsraums hinaus. Denn der Handlungsdruck auf Europa ist längst nicht so eindimensional, wie die Berichterstattung der vergangenen Jahre suggeriert hat. Die Veränderungen, die durch neue Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft, die Digitalisierung und den demografischen Wandel auf uns Europäer zukommen, lassen sich heute bereits erahnen. Aus ihnen ergeben sich die Notwendigkeit und der Imperativ, schon heute die ungeheuren Kräfte Europas zu bündeln, um unsere Zukunft aktiv zu gestalten. Europa 5.0, die nächste Stufe der europäischen Integration, soll Europa aus der müden Ecke der Resignation holen und unseren Kontinent wieder zu einem führenden und lebendigen Spieler im globalen Wettbewerb machen. Unser Buch soll diese Strategie entwerfen.

Europa 5.0– das ist stärkere Integration unseres Kontinents im bestehenden institutionellen Rahmen.

Wir haben ihn noch längst nicht ausgeschöpft. Wettbewerbsorientierte Rahmenbedingungen, die Investitionen fördern, grenzüberschreitende Zusammenarbeit europäischer Unternehmen und Vermögensbildung der breiten Bevölkerung sind die Bausteine, die das noch ungenutzte Entwicklungspotenzial Europas heben und beleben können. Im Ergebnis entsteht eine konstruktive Haltung, die sich nicht mehr daran ausrichtet, wie das Erreichte anders verteilt, sondern wie die Wertschöpfung mit neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kraft und Engagement vergrößert werden kann. Neue Offenheit im Handeln soll helfen, Chancen zu nutzen und neue Möglichkeiten zu erschließen, um so letztlich zu wachsen und den Wohlstand zu vergrößern. Damit dies gelingen kann, braucht Europa klare Entscheidungen und entschlossenes Handeln. Hierzu wollen wir die Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik motivieren.

Einfach wird all dies nicht. Mit 28 selbstbewussten, souveränen Staaten ist es schließlich nicht immer leicht, zu einer gemeinsamen Lösung zu finden. Sofern es jedoch ein gemeinsames Grundverständnis über gemeinsame Ziele gibt, muss ein Kompromiss nicht immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauslaufen. Im Kleinen war dies auch unsere ganz eigene Erfahrung, als wir dieses Buch geschrieben haben: Wenn ein langjähriger Minister, ein Volkswirt und ein Manager aus drei verschiedenen europäischen Ländern gemeinsam in die Tasten greifen, dann führt das zwangsläufig zu Diskussionen. Doch allein die Auseinandersetzung miteinander hat uns gezeigt, dass Lösungen dann möglich sind, wenn man bereit ist, voneinander zu lernen. Um ein solches fruchtbares und langfristiges gemeinsames Lernen soll es in unserem Buch »Europa 5.0« gehen.

Wir sehen es als Diskussionsbeitrag, der Mut machen soll, dass Veränderungen zum Positiven möglich sind – selbst dann, wenn die Lage manchmal aussichtslos erscheint. Europa kann mehr sein als die Summe seiner Teile. Europa kann mehr sein als die Eurokrise. Wir haben die Wahl.

Luc Frieden, Nicolaus Heinen, Stephan Leithner
London, München und Frankfurt 

 

Über die Autoren

Luc Frieden ist Vice Chairman der Deutsche Bank Gruppe in London. Als langjähriger Justiz- und Finanzminister von Luxemburg hat er sein Land u.a. in der Eurogruppe sowie im EU-Finanzministerrat vertreten. Er hält Abschlüsse in Rechtswissenschaften der Universitäten Paris-Sorbonne, Cambridge und Harvard.

 

Nicolaus Heinen leitet die Global Intelligence Services der Linde AG in München. Zuvor war er als Europavolkswirt für die Deutsche Bank AG in Frankfurt tätig. Er promovierte an der Universität zu Köln und hält dort einen Lehrauftrag in europäischer Wirtschaftspolitik.

 

Stephan Leithner war Mitglied des Vorstands der Deutsche Bank AG in Frankfurt und dort u.a. als CEO für Europa verantwortlich. Ab März 2016 ist er Partner bei der Beteiligungsgesellschaft EQT. Leithner hat in verschiedenen Funktionen in der Deutschen Bank europäische Unternehmen bei Strategie- und Kapitalmarktthemen begleitet. Bis 2000 war er Partner bei McKinsey & Company. Er promovierte an der Universität St. Gallen.

 

 

 

26.01.2016