Ihr neues Buch trägt den Titel »Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten.« Was erwartet die Leser?
Fredmund Malik: Wir befinden uns derzeit im historisch wahrscheinlich grössten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel – der Grossen Transformation21. Von der Alten Welt, wie wir sie kennen zu einer Neuen Welt, die wir noch nicht kennen. Wir betreten Neuland und wissen noch nicht, wie wir damit umgehen können. Navigieren ist die Kunst des Steuermannes. Im einfachen Fall heisst Navigieren, den Standort feststellen, das Ziel festlegen und den Weg dorthin steuern.
Die höhere Form des Navigierens ist die Fähigkeit, sich im Unbekannten zurechtzufinden – dann, wenn die Standorte ungewiss, die Ziele beweglich und die Wege vielfältig sind. In diesem Buch beschreibe ich die Methoden des Navigierens in einer Neuen Welt, darunter Denkprinzipien und Regeln des Handelns bei Ungewissheit und Komplexität.
Komplexität ist dynamische Vielfalt, die sich ständig ändern kann. Dies ist eine der fundamentalsten Eigenschaften unserer heutigen Realität. Sie ist das Resultat von immer dichter werdenden Vernetzungen zwischen Personen, Objekten, Organisationen und Systemen, die vorher separiert waren.
Die Neue Welt, von der hier die Rede sein wird, ist zwar in vielen Dimensionen noch unbekannt. Ich denke allerdings, wir wissen bereits viel mehr als wir oft meinen. So wissen wir etwa, dass das Neue komplex sein wird. Das wird die grösste Herausforderung für Führungskräfte sein. Das gilt auch für Organisationen aller Art - seien es Unternehmen oder Krankenhäuser, seien es Städte oder Universitäten, oder seien es Cluster oder Netzwerke und all die neuen Organisationsformen, die soeben im Entstehen sind. Wie wir damit umgehen und diese neue Welt gestalten können, ist Thema des Buches.
Was unterscheidet die große Transformation 21 von anderen gesellschaftlichen Transformationsprozessen bisher? Und was bedeutet das für Wirtschaft, Gesellschaft und uns persönlich?
Fredmund Malik: Die Grosse Transformation21 zeigt schon an ihren bisher eingetretenen Veränderungen, dass sie noch weit grösser und umfassender sein wird, als die vorhergehenden gesellschaftlichen Umwandlungen. Der Vernetzungsgrad von immer mehr Systemen ist grösser denn je, genauso wie das rasante Tempo des Wandels.
Treiber dieser Transformation sind die globale Bevölkerungsentwicklung die ökologischen Fragen, ferner die Fortschritte in Wissenschaft und Technologie sowie die Ökonomie, und hier vor allem die alles durchseuchende Verschuldung. Alle zusammen kulminieren in einer neuen, bis heute noch nie dagewesenen Komplexität. Diese zu managen, zu meistern und zu nutzen, ist die eigentliche Kernherausforderung.
Wenn wir – wie ich vermute – heute im ersten Drittel der Transformation stehen, bedeutet dies, dass sie jetzt erst wirklich in Schwung kommt. In wenigen Jahren schon wird gegenüber heute fast alles neu und anders sein: was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun – wie wir produzieren, transportieren, finanzieren und konsumieren; wie wir erziehen, lernen, forschen und innovieren; wie wir informieren, kommunizieren und kooperieren, wie wir arbeiten und leben. Und als Folge ändert sich auch, wer wir sind.
Werden sich die Herausforderungen des Managers in Unternehmen und Institution grundlegend ändern? Woran können sich die Führungskräfte von morgen schon heute orientieren?
Fredmund Malik: Führungskräfte kennen ihre Herausforderungen zum Teil sehr gut und wissen auch, was zu tun ist. Sie kennen also das WAS, aber sie wissen nicht WIE. Denn es fehlt ihnen das methodische Instrumentarium, um Change vom notwendigen Ausmass durchführen und beherrschen zu können.
Es gibt Methoden und Instrumente, mit denen wir in der Transitionsphase verlässlich navigieren können. Sie machen die Organisationen besser und leichter steuerungsfähig und schaffen bessere Sicht. Die Organisationsspitze kann ihre schwierigen Aufgaben mit diesen Navigation Assistant Tools leichter lösen, den Standort und damit die jeweils nächsten Schritt besser bestimmen.
Ein Beispiel dafür ist etwa, dass das Denken in Algorithmen nicht reicht. Algorithmen sind für die Neue Welt zu einfach. Ganz abgesehen davon, dass uns das mehr denn je von der Digitalisierung unserer Welt abgenommen wird. Das Denken und Handeln in Heuristiken wird in Zeiten wie diesen wichtiger.
Sei dem Wandel stets voraus – ist etwa ein heuristisches Grundprinzip erfolgreicher Führungskräfte. Erfolgreiche Unternehmen und Organisationen führen den Wandel aktiv herbei, statt wie viele andere zu warten, bis er passiert. Sie nutzen die Kräfte des unerbittlichen Gesetzes der Substitution für den Aufbruch, statt sich dagegen zu stemmen. Damit behalten sie die Initiative in der Hand und bestimmen selbst die Spielregeln. Der Wandel ist dann kein Müssen, sondern ein Wollen.
Sie beschreiben Komplexität als Rohstoff für und in der neuen Zeit. Das klingt gut! Wie können wir diesen Rohstoff sinnvoll nutzen?
Fredmund Malik: Komplexität ist der Rohstoff für Information, für Intelligenz und Kreativität. Viel zu lange hat man – gerade im Management – Komplexität falsch verstanden. Komplexität kann man zwar ignorieren, aber deswegen verschwindet sie nicht. Man kann sie manchmal reduzieren, zum Beispiel durch ein geschicktes Organisieren. Häufig übersieht man, dass es gar nicht um Komplexität geht, sondern um Kompliziertheit, was etwas ganz anders ist.
Ein einfaches, aber anschauliches Beispiel ist die Regelung einer Kreuzung im Strassenverkehr. Ampelregelungen können hier enorm kompliziert sein. Dieselbe Kreuzung kann aber auch durch einen Kreisverkehr geregelt werden. Die Komplexität – die Varietät – des Verkehrs bleibt gleich, aber die zweite Lösung ist einfach – und sie kostet kaum etwas.
Viel wichtiger ist im Management also das Wissen, dass man Komplexität meistern und nutzen kann, um Organisationen leistungsfähiger, effektiver, schneller, flexibler und intelligenter zu machen. Komplexität kann man für ein immer besseres Funktionieren nutzen. Im Management geht eben um das Wissen über die Naturgesetze des Funktionierens. Die Regeln dafür sind in Politiken und Heuristiken gegeben. Die Ergebnisse entstehen aus dem Prozess heraus – wie in der Evolution. Die Landkarte zeigt nicht wie üblich die Landschaft, sondern die Regeln für das Entstehen von Landschaften und die Regeln für die Entstehung von Regeln für Landschaften.
Wir stehen nicht am Ende, sondern noch weit am Anfang der Komplexifizierung der Welt und damit vor den Lösungen von Problemen, die mit den alten Verfahren unlösbar sind. Komplexität ist der neue Rohstoff, eine neue Form von Kapital. Für zuverlässiges Arbeiten der gesellschaftlichen Institutionen und generell für eine funktionierende Gesellschaft werden Komplexität und komplexitätsgerechte Lenkungssysteme sowie das Wissen darüber wichtiger sein als Kapital in Form von Geld.
Zum Autor
Prof. Dr. Fredmund Malik (geb. 1944, Lustenau/Österreich) gehört zu den renommiertesten Managementvordenkern. Er ist bekannt für seine scharfsinnigen Analysen und seine klare Sprache. Sein über Jahrzehnte konsequent vom Zeitgeist losgelöstes Verständnis von Management hat Generationen von Führungskräften beeinflusst. Malik ist an der Schweizer Universität St. Gallen habilitierter Professor für Unternehmensführung, Gründer und Inhaber der führenden Institution für das Management komplexer Systeme mit Niederlassungen in St. Gallen, Zürich, Wien, Berlin, London, Toronto, Peking und Shanghai. Darüber hinaus ist er als Mitglied und Vorsitzender in Aufsichts-, Verwaltungs- und Stiftungsräten fundierter Kenner der Praxis von Corporate Governance. Malik lebt in St. Gallen/Schweiz, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Das Thema Bergsteigen und Management beschäftigt den passionierten Alpinisten seit Jahren.
Fredmund Malik ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Bestsellern, darunter der Klassiker »Führen Leisten Leben«, der zu den 100 besten Managementbüchern aller Zeiten gehört. Zu seinen Auszeichnungen zählen das Ehrenkreuz der Republik Österreich für Wissenschaft und Kunst (2009) und der Heinz-von-Foerster-Preis für Organisationskybernetik der Deutschen Gesellschaft für Kybernetik (2010).
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