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Wirtschaft und Gesellschaft

Industrie 4.0 – Das Ende des klassischen Wirtschaftens?

Ein Beitrag aus »Welt der Wirtschaft. Neue Fragen, einfach erklärt« zeigt, ob Deutschland in der schönen neuen Wirtschaftswelt angekommen ist.

INDUSTRIE 4.0 – DAS ENDE DES KLASSISCHEN
WIRTSCHAFTENS?

Industrie 4.0 – dieses Schlagwort klingt nach einem PR-Slogan. Tatsächlich wurde es von Experten des Hightech-Forums der Bundesregierung kreiert. Sie wollten damit deutlich machen, dass Deutschland für die Zukunft gerüstet ist.
In einem Industriebetrieb für keramische Bauteile, einem Zweigwerk der Schunk Carbon Technology in Willich bei Düsseldorf, hat die Industrie 4.0 bereits ihre Spuren hinterlassen. Diese Firma hat den Niedergang der Schwerindustrie im Ruhrgebiet überstanden und sich mit neuen Produkten erfolgreich am Markt positioniert. Unlängst ist der betriebseigenen Entwicklungsabteilung nämlich ein Durchbruch im 3-D-Druck-Verfahren gelungen. Im Jahr 2010 hatte das Zweigwerk von der Konzernzentrale in Heuchelheim bei Gießen grünes Licht für dieses Entwicklungsprojekt erhalten. Nun ist die Firma in der Lage, im 3-D-Druck Bauteile herzustellen, die mit keinem anderen Formgebungsverfahren realisierbar wären. Der 3-D-Drucker der Schunk Carbon Technology ist ein großer Block, etwa drei Meter lang und zwei Meter hoch. Gedruckt wird
mit dem Werkstoff Siliziumcarbid – eine Innovation. Welche technischen Kniffe und Feinheiten der Geschäftsführer Joachim Heym und sein Team dafür entwickelt haben, sieht man von außen nicht – Betriebsgeheimnis. Nur so viel wird dem Besucher erklärt: Normalerweise wird beim 3-D-Druck Kunststoff auf Kunststoff verarbeitet, hier aber werden abwechselnd dünne Schichten von Keramikpulver verbunden. Man benötigt nur die digitale Konstruktionszeichnung des Kunden und schon kann das Werkstück in Druck gehen, und zwar prinzipiell überall auf der Welt. Das bedeutet eine enorme  Beschleunigung des Geschäftsprozesses.


Das 3-D-Druckverfahren haben ursprünglich die »Maker«, eine international vernetzte Szene von Technik-Freaks, kurz nach der Jahrtausendwende vorangetrieben. Da Baupläne und Software als Open Source, also frei und allgemein verfügbar waren, beteiligten sich viele »Maker« an der Weiterentwicklung. Es galt, die industrielle Massenproduktion zu unterlaufen. Jeder sollte sich mit dem 3-DDruckverfahren bald selbst Industrieprodukte herstellen können. Dass es noch nicht so weit ist, liegt daran, dass die 3-D-Drucktechnik noch zu aufwändig und vor allem zu teuer ist. Doch zusammen
mit den Entwicklungen der digitalen Vernetzung sind wir möglicherweise gerade dabei, die bisherige Produktionswelt auf den Kopf zu stellen – und damit zugleich die Arbeitswelt. Für Andreas Hackethal, Wirtschaftsprofessor an der Frankfurter
Goethe-Universität und wissenschaftlicher Berater des Funkkollegs Wirtschaft, wird das an einem Smartphone deutlich. Es könne heute besser rechnen und mehr Daten verarbeiten als ein großer Rechner vor gerade mal 20 Jahren. Ihm zufolge sind wir schon Teil einer Wirtschaftswelt 4.0: »Auch das Smartphone ist ja vernetzt. Es zieht Informationen aus allen möglichen Quellen, mittlerweile auch von Maschinen, die dem Paradigma der Industrie 4.0 folgen. Neben der Vernetzung haben wir eine Datenverfügbarkeit, die früher nicht da war. Wenn man das alles zusammenzählt – immense  Rechnerkapazität, Vernetzung und unglaubliche Mengen an Daten –, dann wird daraus eine Melange, die tatsächlich menschliche Fähigkeiten überschreitet.«


Vernetzte Maschinen
Alles begann mit der Dampfmaschine – Industrie 1.0, die erste industrielle Revolution. Es folgten die Elektrifizierung und die Einführung der Fließbandarbeit – Industrie 2.0. – und um 1980 die Automatisierung durch Computertechnologien – Industrie 3.0. Mit Industrie 4.0, der Vernetzung von Maschinen untereinander, stehen wir derzeit an der vierten Stufe der großen industriellen Entwicklungen. Andreas Irmen ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Luxemburg, er hat die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Innovationen auf die Industrieproduktion untersucht, vor allem die »disruptiven Innovationen«, die Zerstörung von Altem, was Platz macht für Neues: »Der Begriff der ›disruptiven  Innovation‹ bedarf einer Interpretation. Meine Idee ist sehr nahe an den Ideen von Josef Schumpeter, der den Begriff der kreativen Zerstörung im Zusammenhang mit Innovationen, die sich durchsetzen, geprägt hat. Solche Innovationen sind kreativ, weil sie etwas Neues bringen. Und sie sind zerstörerisch, weil sie letztendlich die Märkte derjenigen zerstören, die die alten, überkommenen Technologien oder Produkte herstellen. Insofern ist Industrie 4.0 sicher das Ergebnis eines kreativen Aktes, weil es eine überlegene Technologie zu implementieren erlaubt.« Was das konkret heißen kann, erläutert Ralf Becker. Er ist Entwicklungsingenieur bei Schunk, einem inhabergeführten Familienunternehmen, das zufällig den gleichen Namen trägt wie der Technologiekonzern Schunk, und das sich zufällig ebenfalls mit 3-D-Druck befasst. Eine gut abgedichtete Tür führt in seinem Betrieb von der Werkshalle zum Druckerraum. In diesem Raum wird Kunststoffpulver verarbeitet. Ralf Becker zeigt auf einen Tisch, auf dem der Inhalt des Behälters aus dem 3-D-Drucker ausgebreitet liegt, ein weißes Pulver mit einer sehr feinen Körnung. Es fühlt sich an wie Mehl. Ralf Becker wischt das lockere Pulver vorsichtig zur Seite und fischt – wie bei einem archäologischen Fund – aus dem Haufen weißen Pulvers ein perfektes Werkstück.
Die Schunk GmbH & Co. KG hat ihren Sitz in Lauffen am Neckar und ist spezialisiert auf Greifsysteme für Industrieroboter.
Die Steuerungseinheiten sind standardisiert, aber die Greifer sind von Kunde zu Kunde unterschiedlich. Für Einzelanfertigungen hat Schunk den eGrip entwickelt, erläutert Ralf Becker: Dank der Möglichkeiten im Internet und des 3-D-Druckens habe man eine Prozesskette aufgebaut, mit der die Firma dem Kunden anbieten könne, sein Modell, das er handhaben möchte, als 3-D-Modell direkt auf die Rechner von Schunk hochzuladen. Dadurch sinke die Konstruktionszeit
um bis zu 97 Prozent auf nur noch rund 15 Minuten und die Fertigungs- und Lieferzeit durch den 3-D-Druck um bis zu 80
Prozent. Zudem halbierten sich durch die automatisierte Prozesskette die Produktionskosten. Ein weiterer Vorteil, erklärt der Ingenieur, sei, dass man auch kleinste Stückzahlen produzieren könne, angefangen bei »Losgröße 1«, also bei Einzelstücken. Man spricht dabei von kundenindividueller Massenproduktion: »Der gängige Begriff dafür ist ›Mass Customization‹. Wir bauen individuell angepasste Teile, die aber alle Schnittstellen haben, um an unseren  Standardkomponenten angeschlossen zu werden.«


Nachdem schon Bücher »on demand«, also in kleinen Auflagen und auf Abruf gedruckt werden, können in Zukunft auch dreidimensionale Gegenstände gedruckt werden. Das Verfahren ist noch teuer, und es lohnt sich bisher nur für hochwertige Produkte. Aber so, wie man mit Vorlagen in einen Copyshop geht, wird man künftig CAD-Dateien, sei es von einem Stuhl oder vom Gehäuse eines Haushaltsgerätes, in eine 3-D-Druckstation schicken und dort das Produkt  ausdrucken können. Für manche Unternehmen kann das eine durchaus bedrohliche Entwicklung sein. Andererseits: Auch
»Book on demand« hat das Verlagswesen nicht überflüssig gemacht, sondern es wurde von den Verlagen in ihre Produktpalette integriert. So verhält es sich bisher auch mit dem 3-D-Druckverfahren: Es ersetzt die Industrieproduktion nicht, es erweitert sie.
Zurzeit jedenfalls. Mit Prognosen hält sich Andreas Irmen nämlich zurück. Prozessinnovationen seien jedoch einer der Treiber für Wirtschaftswachstum: »Prozessinnovationen bedeuten, dass die eingesetzten Faktoren – wie Arbeit und Kapital – effizienter werden. Eine zentrale Frage bei der Einführung der Industrie 4.0 wird sein, wie lange es dauert, bis die Technologien ihr gesamtes produktivitätssteigerndes Potenzial ausbreiten können. Dafür ist es notwendig, dass sich viele Unternehmen entscheiden, diese Technologie zu implementieren. Dass es Ideen gibt, wie man das am besten macht und wie man den Übergangsprozess von den heute benutzten Technologien auf die neuen Technologien gestaltet.«

Wie schnell kann sich die Wirtschaftswelt darauf einstellen? Andreas Irmen verweist auf die Wirtschaftsgeschichte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann mit der Entwicklung des Elektromotors die zweite industrielle Revolution. Die Schwerindustrie musste ihre Vormachtstellung an die »neuen Industrien« abgeben, an die Elektroindustrie, die chemische und die optische Industrie: »Die industrielle Revolution ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Implementierung solcher basistechnologischen Erneuerungen sehr lange Zeit dauern kann. Beispielsweise hat die Umstellung von dampfmaschinengetriebener Produktion auf elektromotorgetriebene mehr als 30 Jahre gebraucht, bis tatsächlich die Produktivitätswachstumszahlen diesen Wandel haben zeigen können.«


Autobauer im Abseits?
Seit 2013 ist das Schlagwort »Industrie 4.0« ein beherrschendes Thema auch auf der Hannover Messe. Die Verbände der Elektroindustrie, des Maschinenbaus und der Informationswirtschaft haben die »Plattform Industrie 4.0« gegründet, um mit dem Wandel Schritt zu halten. Der Entwicklungsingenieur Siegfried Dais kommt seit vielen Jahren auf diese weltweit wichtige Industriemesse. Er war in der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH tätig und hat Industrie-4.0-Lösungen eingeführt, er ist einer der Macher der ersten Stunde: »Industrie 4.0 zielt nicht primär auf Technik, sondern Basis ist, die
Vernetzung um neue Geschäftsmodelle zu realisieren. Es gibt Vorbilder im Bereich der Consumer-Welt: Denken Sie an die Googles, Amazons, auch an Uber. Denen ist es gelungen, ein neues Feld zu eröffnen, um sich zwischen Kunden und diejenigen, die bisher das Angebot erbracht haben, zu schieben. An solchen Stellen wird es viele Umwälzungen auch im industriellen Bereich geben. Ziel muss sein, dass die produzierenden Unternehmen selbst diejenigen sind, die die Dienstleistungen in der vernetzten Welt anbieten.« Wer in diesem weltweiten Geschäft am Ende als Gewinner und
wer als Verlierer dastehen wird, ist eine spannende Frage. Google hat mit seinem Google Car längst den Versuch gestartet, ein Stück vom Kuchen der alten, traditionellen Automobilindustrie abzubekommen – sich »dazwischenzuschieben«, wie es Siegfried Dais formuliert hat. Denn Autos sind schon lange nicht mehr nur modisch
gestaltete Blechkisten, sondern fahrbare und vor allem dauervernetzte Computer. Und warum, könnte man fragen, sollten Opel oder VW die bessere Ware produzieren können als Google? Noch haben die deutschen Autobauer den potenziellen Konkurrenten aus dem Internet einiges voraus; vor allem die jahrzehntelange Erfahrung im Autobau, das technische Wissen, man könnte auch sagen: Sie bauen die bessere Hardware. Klar ist aber auch, dass die deutsche Autoindustrie diesen Vorsprung durch Technik nur aufrechterhalten wird, wenn sie ihr Geschäftsmodell anpasst. Schließlich
steht im Zentrum der neuen vernetzten Produktionswelt, Industrie 4.0, der Umgang mit Daten.

Lutz Jänicke ist Geschäftsführer von Innominate Security Technologies, spezialisiert auf Datensicherheit in der vernetzten Fabrik. Er beobachtet auf der Hannover Messe, wie sich Maschinenbau und Informationstechnologien immer weiter einander annähern: »In der Automatisierung werden heute sehr viele Sensoren eingesetzt, um Messwerte zu erfassen, die man für die eigentliche Steuerungsaufgabe braucht. Das können Temperaturen sein, Druck, Abstände. Diese Daten werden von der Steuerung verarbeitet. Viele dieser Daten werden zusammengefasst. Was jetzt bei Industrie 4.0 neu ist, ist, dass viel mehr mit den Rohdaten gearbeitet werden soll.« Um zum Beispiel aus Daten neue Muster zu erkennen. Das fasziniert auch Siegfried Dais: »Durch das Internet haben wir die Möglichkeit, Millionen von Instanzen, also Sensoren, Aktoren, Maschinen, zu vernetzen, und wir haben die Fähigkeit, große Datenmengen in Echtzeit auszuwerten. Das ergibt die nächste Stufe der Optimierung, dass es nämlich möglich wird, ganze Ökosysteme in Echtzeit zu optimieren.« Mit »Ökosystem« ist hier das Zusammenwirken von Mensch, Maschine, Software und Management im Produktionsprozess
gemeint.

Learning by doing
Auch der deutsche Maschinenbauer Bosch-Rexroth mit weltweit über 33 000 Mitarbeitern ist ein wichtiger Player und will das auch bleiben. Als in seinem Zweigwerk im saarländischen Homburg eine neue Fertigungslinie gebraucht wurde, fiel die Entscheidung, Neues zu wagen. Man hat vom US-amerikanischen Pragmatismus gelernt: Es geht nicht darum, zunächst die eine große Gesamtlösung zu entwickeln und dann die Produktion umzustellen, sondern man beginnt mit einem use case, einer Anwendung in der Praxis: learning by doing. Der technische Leiter Frank Hess erzählt begeistert von der
Zusammenarbeit mit IT-Spezialisten aus dem amerikanischen Palo Alto im Silicon Valley. Er ist überzeugt, »dass wir durch mehr Informationen in der gesamten Wertschöpfungskette bis zum Kunden, bis zu unseren Produkten im Feld, mehr Informationen generieren und daraus künftige Geschäftsmodelle ableiten können. Das geht natürlich nur gemeinsam mit dem Kunden, aber ich bin überzeugt, dass sich daraus etwas entwickeln wird.« Wie weit die Auswertung der Daten gehen kann, ist noch nicht geklärt, denn die vernetzten Maschinen liefern nicht nur Produktions-, sondern auch Personendaten. Das erzeugt allerdings auch neue Probleme, erklärt Lutz Jänicke, der Datenschutz und Industrie 4.0 zusammendenkt: »Aus den gesammelten Daten ist es natürlich auch möglich, eine Leistungsbewertung der Arbeitnehmer vorzunehmen,
weil man sofort sehen kann, wie viel Ausschuss produziert wurde. Man kann Taktzeiten erkennen, man kann sehen, wie
schnell jemand etwas gemacht hat oder wie langsam. Das ist eine spannende Herausforderung aus Sicht des  Datenschutzes, der das Modell der Datensparsamkeit voraussetzt, was bedeutet, nur jene Daten zu erheben, die man wirklich braucht. Das aber steht in direktem Widerspruch zum sogenannten Big-Data-Konzept, das besagt: Sammle erst einmal alles, was du bekommen kannst, und werte es hinterher aus.« Rundum erfasste Daten, vernetzte Maschinen, automatische Optimierung, da muss die Frage kommen: Wo bleibt am Ende der Mensch? Wird die Industrie 4.0 womöglich zu Massenarbeitslosigkeit führen? Historische Beispiele gibt es schließlich: Etwa die Weber, die im 19. Jahrhundert auf die Barrikaden gingen, weil Webstühle ihre Arbeitsplätze ersetzten – Webstühle, die nicht mehr von Hand, sondern von Maschinen angetrieben wurden. Jedoch: Sie kämpften zugleich gegen Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Die Stunde
der Gewerkschaften war gekommen. Eine große industrielle Neuerung bedeutet immer auch einen gesellschaftlichen
Umbruch. Auch die Industrie 4.0 wird vermutlich nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Gesellschaft verändern.
Noch ist allerdings offen, wie genau. Die Europäische Union setzt darauf, dass Industrie 4.0 in den kommenden Jahren eine Re-Industrialisierung bringen wird. Jedoch werden sich die Arbeitsplätze in der Industrie verändern: In der smart factory, der intelligenten Fabrik, wird es vor allem auf qualifizierte Fachkräfte ankommen, die komplexe Produktionsprozesse verstehen und steuernd eingreifen können.


Berufe in der Industrie werden eine Aufwertung erfahren, während Berufe im Dienstleistungssektor möglicherweise ersetzbar werden. Eine Studie der Universität Oxford hat eine Prognose für den Arbeitsmarkt in Amerika erstellt. Danach werden im Jahr 2035 rund 50 Prozent der Berufe, wie wir sie heute kennen, nicht mehr gebraucht werden. An der Spitze stehen hier Buchhalter und Verkäufer. In Amerika rechnet man allerdings schon jetzt damit, dass mit dem »Industrial Internet« auch ganz neue Arbeitsplätze entstehen, so nennt man dort die mit dem Internet vernetzte und Daten-getriebene Produktion. Fünf weltweit führende amerikanische Konzerne, darunter General Electric, haben sich in einem Konsortium zusammengeschlossen, dem Industrial Internet Consortium (IIC). General Electric zum Beispiel hatte seine Produktion in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr in Niedriglohnländer verlagert. Das aber lohnt sich nicht mehr, denn Digitalisierung und Vernetzung erhöhen die Produktivität. Dafür aber braucht es eine Infrastruktur und gut ausgebildete Fachkräfte – und die findet der Konzern eher in den USA. Analog zu Industrie 4.0 will das IIC die künftigen Potenziale in allen nur denkbaren Anwendungen des Internets gemeinsam entwickeln, aber es fokussiert sich ganz bewusst nicht allein auf die Industrieproduktion. Die im IIC zusammengeschlossenen Technologiekonzerne treiben den Wettlauf um zukunftsweisende Innovationen an.


Vernetzte Kleinkraftwerke
Auch auf der Hannover Messe hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Für ihren begehrten Technologiepreis, den »Hermes Award«, wurde ein Unternehmen nominiert, das auf Schwarmenergie setzt: NextKraftwerke hat in einer Branche Fuß gefasst, der Energiebranche, die bisher von einigen wenigen Großkonzernen dominiert wurde. NextKraftwerke betreibt ein rein virtuelles Kraftwerk. Das junge Unternehmen besitzt keine Anlagen zur Stromerzeugung, aber es hat ein Leitsystem entwickelt, NextPool, mit dem es mittelgroße Stromerzeuger, also zum Beispiel Biogas- oder Windradanlagen,
vernetzt hat. Eine überzeugende Industrie-4.0-Lösung, befand die Jury, denn mehr als 2 500 dezentrale Stromerzeuger und -verbraucher mit einer Gesamtleistung von rund 1 500 Megawatt wurden gebündelt. So entsteht ein Schwarm von Kleinkraftwerken, der die Rolle eines Großkraftwerks übernehmen und damit einen entscheidenden Beitrag zur Energiewende leisten kann. Die Forschung hat die Vorlage dazu geliefert: Schwarmenergie kann funktionieren. Die Gründer von NextKraftwerke, Hendrik Sämisch und Jochen Schwill, haben daraus ein erfolgreiches Geschäftsmodell
entwickelt. Aus dem Start-up wurde innerhalb von sieben Jahren ein mittelständisches Unternehmen.
Einer der Konkurrenten von NextKraftwerke ist der Stromanbieter LichtBlick. Das Unternehmen will nicht mehr nur Strom verkaufen, erklärt Geschäftsführer Gero Lücking: »Früher hat der Kunde zu hundert Prozent konsumiert, sein ganzer Strombedarf wurde aus dem Netz geliefert. Wenn er jetzt selber erzeugt, weil er eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach hat, ist er Erzeuger. Der Kunde erwartet in seinem veränderten Rollenverhältnis mehr Dienstleistung, mehr Optimierung, und um das liefern zu können, braucht man viel mehr IT, viel mehr Intelligenz, viel mehr Know-how, als das früher notwendig war. Unternehmen, die das jahrzehntelang verdrängt haben, ganz bewusst, wie zum Beispiel Eon, RWE, Vattenfall und EnBW, weil sie ihre Großkraftwerke hatten, Kohle und Atom, und deswegen diese Dezentralität erstens ignorieren wollten und sich zweitens immer auf ihren politischen Einfluss verlassen haben, die kämpfen jetzt mit dieser Entwicklung umso stärker. Die spannende Frage ist, ob diese Unternehmen diese Kleinteiligkeit schnell genug denken können, ob sie schnell genug diesen Transformationsprozess, der jetzt im Gange ist, leben können.« Das ist eine offene Frage für viele Unternehmen. LichtBlick ist vor einiger Zeit eine Kooperation mit dem US-amerikanischen Konzern Tesla eingegangen, der für seine schicken Sportwagen mit Elektroantrieb bekannt ist. Nun aber ist Tesla dabei, einen Stromspeicher für Privathaushalte auf den Markt zu bringen. Solch ein Speicher wäre das noch fehlende Puzzle-Stück in der dezentralen, vernetzten Energie-Welt. Im April 2015 hatte Elon Musk, Internetmilliardär aus dem Silicon Valley und im Vorstand von Tesla, in Los Angeles das Modell des Stromspeichers mit großem Pomp vorgestellt. Auf einem PR-Video, das vom Publikum bestaunt werden konnte, war jedoch noch nicht viel zu sehen: eine rechteckige gewölbte weiße Fläche mit der Inschrift »Tesla«. Obwohl der Stromspeicher noch gar nicht fertig entwickelt war, gab es einen regelrechten
Hype um ihn.


Die künftigen Märkte werden also bereits abzustecken versucht, ein knallharter Wettbewerb hat begonnen, um mit Industrie-4.0-Geschäftsmodellen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Produktionsprozesse gehen online: von der Kommunikation zwischen Hersteller und Kunde über Bestellung, Materialbeschaffung, Fabrikation und Wartung bis hin zur Auslieferung der Ware. Die Produktion wird kleinteiliger, dezentraler und flexibler. Das alles, so der Volkswirt Andreas Irmen, steigert die Produktivität, man kommt mit weniger Mitarbeitern pro produzierter Einheit aus. Das mag einerseits
bedrohlich klingen; Andreas Irmen aber ist optimistisch: »Das ist eine Aussicht, die man sehr positiv sehen sollte. In einer alternden Gesellschaft, wie es die unsere ist, bei der der Anteil der Beschäftigten in der Gesamtbevölkerung immer weiter zurückgehen wird, hat Industrie 4.0 mit Sicherheit das Potenzial, für die gesamte Wirtschaft Veränderungen  herbeizuführen, die wir alle spüren werden.« Aber er fügt auch hinzu: »Welche Sektoren werden von Industrie 4.0  profitieren, welche werden nicht profitieren? Wird es zu Arbeitslosigkeit kommen? Diese Fragen haben gesellschaftliche
Bedeutung, sie müssen gesellschaftlich reflektiert werden. Es wäre wünschenswert, darüber eine etwas größere und breitere Diskussion in Deutschland zu haben.«


Agnes Handwerk 

02.06.2016