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Wissenschaft

»Jede Maßnahme gegen die Pandemie sollte den Geist der Demokratie atmen.« Till van Rahden

Till van Rahden, Autor von »Demokratie«, hat in einem Text für campus.de festgehalten, warum Corona längst nicht nur eine medizinischen Herausforderung ist, sondern warum die Pandemie auch unser demokratisches Zusammenleben auf die Probe stellt.

Die Demokratie in den Zeiten der Pandemie

Wir spüren seit Wochen, dass wir nicht nur Zeugen einer medizinischen Herausforderung sind, sondern dass die Pandemie auch unser demokratisches Zusammenleben auf die Probe stellt.

Wie wir auf diese Herausforderung reagieren, ist nicht allein eine wissenschaftliche, sondern vor allem eine politische Frage. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Täglich hören wir Tugendappelle und Entscheidungen, welche Schritte nun zu gehen sind. Ob diese auf Irrwege führen oder Wege aus der Krise bahnen, ist offen. Gerade weil wir in einem Ausnahmezustand leben, sollten wir auf die Pandemie demokratisch antworten. Es ist gut, dass die Kanzlerin in ihrer Fernsehansprache am 19. März 2020 betonte, als Regierungschefin einer „Demokratie“ zu sprechen, in der „wir nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung“ leben. Aber es ist bedenklich, wenn die „Nationale Akademie der Wissenschaften“ in ihrer Stellungnahme vom 13. April 2020 der Bundesregierung zuvörderst empfiehlt, an einer „marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung fest[zu]halten“, von der Demokratie aber nur beiläufig spricht. Es geht um wissenschaftlich gebotene oder ökonomisch sinnvolle Schritte, aber sie sollten auch politisch klug sein. Darüber müssen wir umso leidenschaftlicher streiten, je länger die Krise andauert. Jede Maßnahme gegen die Pandemie sollte den Geist der Demokratie atmen.

Die Maßnahmen gegen die Pandemie verschärfen die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Dass wir das öffentliche Leben stillgestellt, die Orte und Räume der demokratischen Begegnung geschlossen haben, hat die Schwächsten in unserer Gesellschaft am Härtesten getroffen: Obdachlose, psychisch Kranke, Flüchtlinge und illegale Migranten, Kinder, die unter psychischer und physischer Gewalt leiden. Dass wir unser Zuhause kaum verlassen können, dass Spiel- und Sportplätze sowie Bibliotheken und Museen geschlossen sind, trifft eine Familie mit kleinen Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung anders, als in einem Reihenhaus mit Garten und Tischtennisplatte. Homeschooling hinterlässt weniger Schaden in einem Haushalt mit drei Computern und einem Druckern, als dort, wo es nur ein funktionierendes Smartphone, aber keine Rückzugsräume gibt. Hier sind Fantasie und Klugheit gefragt, in den Parlamenten, der Exekutive und den Gerichten, der Öffentlichkeit und in unserem Alltag. Suchen wir nach neuen Wegen, wie wir trotz dem epidemiologisch gebotenen Abstand die „ungesellige Geselligkeit“ aller Bürgerinnen und Bürger pflegen. Je mehr öffentliche Räume wie Parks und Sportplätze, Bibliotheken und Museen wir zugänglich machen, desto eher können wir das Gebot der physischen Distanz einhalten. Je länger diese Orte ebenso wie Schulen und Geschäfte geöffnet sind, desto leichter können wir uns aus dem Weg gehen. Hier geht es nicht vorrangig um Arbeitsplätze oder die freie Marktwirtschaft. Ohne die Kreuzung sozialer Kreise versiegt die Lebenskraft der Demokratie.

Schließlich erinnert uns die Pandemie daran, dass Gesundheit auch ein öffentliches Gut ist. Die Demokratie als eine Gesellschaft von Freien und Gleichen lebt auch hier von der Idee des Gemeinwohls. Stärken wir also das öffentliche Gesundheitssystem und besonders die kommunalen Gesundheitsämter, die hierfür stehen. Stellen wir sicher, dass Krankenhäuser ausreichend Personal und Betten haben, um für die nächste Krise gerüstet zu sein. Investieren wir in die Entwicklung von Impfstoffen gegen die Viren von heute und morgen, obwohl die Pharmaindustrie an diesen vergleichsweise wenig verdient. Nicht zuletzt mit Blick auf den globalen Süden sollten wir die Impfstoffe als ein Gemeingut betrachten, statt sie patentieren zu lassen. Angesichts der Pandemie versagt die Logik der Gewinnmaximierung, so vorteilhaft sie in anderen Bereichen sein mag.

All das kostet Geld. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und unser demokratisches Zusammenleben gibt es nicht zum Nulltarif. Die Pandemie erinnert uns daran, dass bürgerliche Eigenverantwortung und Privatinitiative nur dann gedeihen, wenn wir uns wechselseitig als Freie und Gleiche anerkennen und das heißt auch, dass wir uns gemeinsam vor existentiellen Risiken schützen.

 

Zum Autor

Till van Rahden ist Historiker und lehrt Deutschland- und Europastudien an der Université de Montréal in Kanada.

 

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05.05.2020

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