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Wissenschaft

»Nicht jeder ist bereit, Solidarität um ihrer selbst willen zu üben.«

Was hält die deutsche Gesellschaft heute eigentlich zusammen? Lässt sich das aus Ihrer Datensammlung heraus beantworten?

Uwe Engel: Dreh- und Angelpunkt ist die Einschätzung des persönlichen Lebensstandards. Fällt diese Einschätzung aus subjektiver Sicht positiv aus, geht dies mit mehreren relevanten Faktoren einher: mit größerer allgemeiner Lebenszufriedenheit und mit größerer auch emotionaler Identifikation mit Deutschland als einem Land, in dem es sich zu leben lohnt und in dem man/frau sich mit seinen Interessen gut aufgehoben fühlt. Außerdem bewerten die Menschen ihre soziale Lage eher als gerecht. Das alles sind verbindende Elemente. Entscheidend ist dabei zugleich, dass die Einschätzung des Lebensstandards selbst von äußeren Faktoren abhängt, und zwar vor allem von den persönlichen Einkommensverhältnissen. Besser situierten Personen fällt es naturgemäß leichter, den eigenen Lebensstandard für angemessen und gerecht zu halten. Genau das zeigen die Daten auch.

 

Der Titel Ihres Buchs „Gerechtigkeit ist gut, wenn sie mir nützt“ lässt darauf schließen dass die Gerechtigkeit an Bedingungen geknüpft ist. Was meinen Sie konkret mit "wenn Sie mir nützt"?

Uwe Engel: In Anspielung an ein bekanntes Sprichwort könnte man heute sagen: „Über Interessen spricht man nicht, man verfolgt sie.“ So wird heutzutage argumentativ gern der Dienst an der Gemeinschaft in den Vordergrund gerückt, um dahinter gut versteckt das Eigeninteresse transportieren zu können. Dies gilt beispielsweise für die in der öffentlichen Diskussion immer wieder gern erhobenen Forderungen nach einer wie auch immer ausgestalteten „gerechten“ Verteilung der Steuerlast. Was der Buchtitel andeuten will, ist genau dieser latente Interessenbezug von Gerechtigkeitsbewertungen. Der Gerechtigkeitsbegriff selbst ist ja zunächst nicht mehr als eine Leerformel. Entscheidend ist jedoch, dass der Begriff unterschiedlich präzisiert werden kann. Manche halten es für gerecht, wenn sich individuelle Leistung auszahlt, für andere wiederum geht es nur dann gerecht zu, wenn alle Menschen dasselbe verdienen. Manche orientieren sich am Bedarfsprinzip und halten es für gerecht, dass jeder auch ohne eigene Anstrengung bekommt, was er zum Leben benötigt. Die Analysen des Buchs zeigen sehr deutlich: Von welchen Gerechtigkeitsvorstellungen sich die Menschen bevorzugt leiten lassen, hängt beispielsweise von den bereits erwähnten persönlichen Einkommensverhältnissen ab. Sehr deutlich wird der Bezug der Interessen auch, wenn das Prinzip gleicher Chancen im Zweifel partikularen Interessen geopfert wird. Etwa dann, wenn es um den Besuch privilegierter Privatschulen oder die Weitergabe von Familienvermögen an die eigenen Kinder geht. Auch mit Blick auf das Thema „Solidarität“ zeigt sich: Nicht jeder ist bereit, Solidarität um ihrer selbst willen zu üben. Die meisten tun es nur dann, wenn sie sich mit den eigenen Interessen deckt.

 

Steht das Maß an Solidarität in Relation zum Einkommen – muss man sich Solidarität leisten können?

Uwe Engel: Ja, in der Tat. Wir haben dazu im Kontext der Eurokrise einige Verzichtsbereitschaften erfragt und festgestellt: Die Bereitschaft, um einer Lösung der Krise willen persönliche Nachteile auf sich zu nehmen, hängt unter anderem klar von persönlichen Einkommensverhältnissen ab. Nicht jeder, der sich als solidarisch erweisen möchte, verfügt auch über die erforderlichen Geldmittel, die dafür notwendig sind.

 

Hatte das Thema „Gemeinwohl“ früher eine größere Bedeutung (Gemeinwohl versus Wohl des Einzelnen)?

Uwe Engel: Das mag sein. Die These der Individualisierung würde meines Erachtens dafür sprechen, dass sich die Menschen heutzutage vor allem für sich selbst verantwortlich fühlen. Unsere Daten reichen allerdings nur bis ins Jahr 2009 zurück und sind deshalb nicht auf größere Zeitvergleiche ausgelegt. Wenn als Beurteilungskriterium aber die Bereitschaft der Menschen zugrunde gelegt wird, zur Lösung der Eurokrise persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, so zeigen die im Buch vorgelegten Analysen zumindest die engen Grenzen auf, unter denen Bereitschaft besteht, Solidarität zu üben. Das ist natürlich nur ein Beispiel. Aber im Kern bringen mich die Analysen des Buchs schon zu folgender Einschätzung: Im Allgemeinen räumen die Befragten dem Wohl der eigenen Familie beziehungsweise dem eigenen Wohlergehen Vorrang ein vor dem Wohl der Allgemeinheit.

 

Was bedeutet „Glück“ in Deutschland heute?

Uwe Engel: Wir haben mit einigem Aufwand zu messen versucht, für wie glücklich und zufrieden sich die Menschen halten. Diese Frage bringt uns zur ersten Frage zurück, und zwar zur Schlüsselstellung der Einschätzung des persönlichen Lebensstandards. Je höher der Lebensstandard eingeschätzt wird, als desto glücklicher und lebenszufriedener zeigen sich die Menschen in ihren persönlichen Bewertungen und desto zuversichtlicher blicken sie auch ihrer persönlichen Zukunft entgegen. Als relevant erweist sich in diesem Zusammenhang auch, für wie abgesichert die Menschen ihren Lebensstandard halten. Inspiriert durch die Ergebnisse des Buchs sage ich: Die Menschen verstehen unter Glück ein Leben, das sich aus persönlicher Sicht zu leben lohnt und mit einem hinreichenden Maß an materiellem Wohlstand einhergeht.

 

Zur Person:

Uwe Engel ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Statistik und empirische Sozialforschung an der Universität Bremen und leitet dort das Sozialwissenschaftliche Methodenzentrum. Er ist Mitbegründer des seit 2008 bestehenden »Access Panel and Mixed-Mode Internet Survey«. Bei Campus ist von ihm der Band »Wissenschaftliche Umfragen. Methoden und Fehlerquellen« (2012) erschienen.

 

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20.05.2014

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Gerechtigkeit ist gut, wenn sie mir nützt
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