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Wirtschaft und Gesellschaft

»Oft ist es so, dass die Unschulds­vermutung überhaupt nicht gilt.«

Wo kommt all die Häme her? Dr. Alexander Görlach im Interview über sein neues Buch »Wir wollen Euch scheitern sehen. Wie die Häme unser Land zerfrisst«.

»Wir wollen Euch scheitern sehen!«, lautet der Titel Ihres neuen Buchs. Was ist die Triebfeder zur öffentlichen Häme gegenüber prominenten Personen wie Jörg Kachelmann, Annette Schavan oder Uli Hoeneß?

Alexander Görlach: Die Deutschen mögen es, sich zu vergleichen, und sind versessen darauf, möglichst viel Gleichheit untereinander herzustellen. Gleichzeitig sehnen sie sich danach, aus der Konformität auszubrechen. Aus dieser Spannung erwächst die Häme, die vor allem dann zutage tritt, wenn jemand scheitert, der sich durch besondere Leistung hervorgetan hat, beispielsweise im Sport oder als Unternehmer. Dann hallt es: »Das haben wir schon immer gewusst!« Das gilt auch für Politiker, Wirtschaftsführer, Medienleute oder Schauspieler: Wer aus der Mitte herausragen möchte, wird verdächtigt und beäugt. Aus der Masse, so stellt man es sich häufig in der Mittelschicht vor, kann nur der ausbrechen, der irgendwelche Tricks anwendet. Sein Fall ist nur die gerechte Konsequenz.

Der »kleine Mann« will den »großen Helden« scheitern sehen – steckt nicht immer auch eine berechtigte Kritik hinter der Häme?

Alexander Görlach: Wir sagen immer, die Prominenten, unsere Helden, müssten mehr einstecken, weil sie ja prominent seien. Aber ist deren Bekanntheit eine Entschuldigung für unser maßloses Verhalten? Berechtigte Kritik hat mit hämischem Gepolter nichts zu tun. Oft ist es doch so, dass die Unschuldsvermutung überhaupt nicht gilt, sondern der Pranger schon aufgestellt wurde und bedient wird, bevor eine Anklage erhoben wurde.

Haben sich die Medien und sozialen Netzwerke in einen modernen Pranger verwandelt?

Alexander Görlach: Wenn wir das so sähen, würden wir es uns zu einfach machen. Medien sind Verstärker. Journalisten gehören zur Mittelschicht. Dort gilt überall, was ich vorhin gesagt habe: Auch Journalisten wünschen sich Konformität und beäugen einen Ausbruch aus dem warmen Nest mit Argwohn. Darin unterscheiden sich Medienmacher nicht von anderen Menschen. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass in den Medien manches geschrieben und in Szene gesetzt wird, nur weil man weiß, dass man damit den Neidreflex einer weidwunden Gesellschaft bedient und so Quote oder Reichweite generiert. ARD und ZDF haben zum Beispiel jüngst beide, mit gleichen Rechercheergebnissen und Fallbeispielen, die Besitztümer der katholischen Kirche in den Blick genommen. Man hätte die ganze Zeit über im Eck oben einen blinkenden Schriftzug »Achtung Neid!« einblenden können. Das war so peinlich, und zwar gerade, weil die Frage nach dem Vermögensstand der Kirchen – Plural! – eine sein kann, die durchaus journalistisch-investigativ angefasst werden darf und muss.

Im Vorwort zu Ihrem Buch »Wir wollen Euch scheitern sehen!« schreibt Exbundespräsident Christian Wulff: »Demokratie ist zwingend auf Mitwirkung und freiwilliges Engagement angewiesen.« Lähmt chronischer Spott die Bereitschaft mitzuwirken?

Alexander Görlach: Ich vertrete in meinem Buch die These, dass in unserer Gesellschaft eben nicht nur die Prominenten, die Helden, unter dem Brennglas betrachtet werden, sondern diese Häme durchdiffundiert zu allen gesellschaftlichen Gruppen – von der Gewerkschaft bis zu den katholischen Landfrauen. Wer Angst haben muss, für lange Zeit am Pranger zu landen, wenn er sich öffentlich exponiert, der kann naturgemäß kein Interesse mehr an einer solchen Exponierung entwickeln.

Was ist nötig, damit wir wieder mehr Milde walten lassen und gegenüber den Scheiternden Mitgefühl zeigen?

Alexander Görlach: Zuallererst sind wir alle in unserem Leben immer auch Scheiternde. Das sollte eigentlich zur Sympathie, zum Mitleiden, befähigen. Die Sozialwissenschaften lehren uns, dass der Mensch bei den Fehlern anderer dazu neigt, charakterliche Defizite auszumachen, für sich selbst aber immer die Umstände geltend machen möchte. Aber der andere, ob prominent oder nicht, darf das auch: Er darf für sich die Umstände geltend machen, er darf erklären, was ihn zu dieser oder jener Handlung geführt hat. Ein solches Verhalten muss man hinterher nicht beklatschen oder am Ende gar Kriminelles verharmlosen. Aber Menschen müssen menschlich sein und bleiben dürfen – ganz gleich, ob sie prominent sind oder nicht.

 

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13.10.2014