Wirtschaft und Gesellschaft

»Wenn die Gesellschaft eine Zukunft haben will, muss sie mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit verwirklichen.« C. und Ch. Butterwegge

Carolin und Christoph Butterwegge zeigen in »Kinder der Ungleichheit« das Spektrum der Kinderungleichheit, sie ergründen die zentralen Ursachen und schlagen Gegenmaßnahmen vor. Ihr Fazit: Wenn ein Großteil der »Generation Corona« abgehängt wird, geht es mit der ganzen Gesellschaft bergab. Hier im Interview mit campus.de

Soziale Ungleichheit und Kinderarmut werden in Deutschland weitgehend tabuisiert. Worin sehen Sie die Gründe für dieses Tabu?

Carolin und Christoph Butterwegge: Wer reich ist, zieht die Bewunderung und schlimmstenfalls »Neidgefühle«“ der materiell weniger gutbetuchten Mitbürger_innen auf sich. Dies gilt in der Regel auch für die Kinder, obwohl sie gar keinen Einfluss auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse ihrer Eltern haben. Wer arm und/oder arbeitslos ist, braucht für den Spott, abwertende Sprüche und misstrauische Blicke der wohlhabenden Mehrheit hingegen nicht zu sorgen. Armen und Arbeitslosen wird eingeredet, selbst für ihre soziale Misere verantwortlich zu sein. Sie stoßen heute auf starke Ressentiments, weil Markt, Leistung und Konkurrenz zentralere Bezugspunkte der Gesellschaftsentwicklung geworden sind. Vom ökonomischen Mangel einer Familie zum öffentlichen Makel ist es in einer reichen, auf den privaten Besitz von Konsumgütern und Statussymbolen fixierten Gesellschaft oft nur ein kleiner Schritt. Hinzu kommt, dass die politischen Entscheidungsträger_innen der klaren Benennung sozialpolitischer Problemlagen wie Kinderarmut und einer wachsenden sozioökonomischen Ungleichheit auch Taten folgen lassen müssten, um diese Herausforderungen an ihren Wurzeln zu packen, also die Ursachen zu beseitigen. Da dieses Eisen vielen zu heiß beziehungsweise politisch nicht gewollt ist, schweigt man sich lieber darüber aus.

 

Wo fängt die Armut von Kindern und Familien in Deutschland an?

C. und Ch. Butterwegge: Wenn die Eltern eines Kindes ein so niedriges Nettoeinkommen haben, dass sich die Familie vieles von dem nicht leisten kann, was für die meisten anderen »normal« ist. Für die Kinder bedeutet das, in fast allen Lebensbereichen benachteiligt zu sein. Es fängt bei der Wohnlage sowie der Größe und Ausstattung ihrer Wohnung (Fehlen eines Kinderzimmers) an und reicht über Gesundheit, (Aus-)Bildung und Kultur bis zur Freizeitgestaltung und zum Sport. Ob ein Kind nach dem Schulunterricht auf den Bolzplatz oder in die Ballettschule geht, hängt nicht bloß von seinem Geschlecht, sondern auch oder vielleicht sogar noch mehr vom Wohlstand und vom sozialen Status seiner Eltern ab.

 

Eines Ihrer Kapitel ist »Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg« überschrieben. Was genau ist damit gemeint?

C. und Ch. Butterwegge: In der Bundesrepublik sind die Bildungschancen ähnlich ungleich verteilt wie Einkommen und Vermögen. Wenn es um den Bildungserfolg von (Schul-)Kindern geht, spielen der familiäre Hintergrund, die soziale Herkunft und die Klassenlage nach wie vor eine Hauptrolle. Weil das Geld heute einerseits so wichtig wie noch nie und andererseits so ungleich verteilt ist wie noch nie, entscheidet nicht zuletzt das Portemonnaie über die Bildungsmöglichkeiten der einzelnen Menschen. Kinder reicher Eltern sind eindeutig im Vorteil, weshalb man in Abwandlung eines deutschen Sprichwortes sagen kann: Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg, sei es zum Abitur, zum Studium und/oder zur beruflichen Karriere.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie tief zerrissen die junge Generation ist. Und die sozialen Unterschiede werden immer drastischer. In allen Lebensbereichen: Gesundheit, Bildung, Teilhabe an der Gesellschaft. Was ist aus Ihrer Sicht der zentrale Moment, dies zu verändern?

C. und Ch. Butterwegge: Argumentativ besser vermittelt werden muss, dass die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nicht bloß moralisch verwerflich, sondern auch schädlich für eine Volkswirtschaft ist. Denn die ungleiche Verteilung der Einkommen bremst das Wirtschaftswachstum. Die sozioökonomische Ungleichheit ist zudem Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der nicht bloß von Konservativen immer wieder als Ziel ihrer Bemühungen beschworen wird. Je mehr die Sozialstruktur in Arm und Reich zerfällt, umso eher bilden sich Parallelwelten und Subkulturen heraus, in denen die Kinder der einzelnen Klassen und Schichten unter sich bleiben.

Corona hat die Situation für die Kinder- und Jugendlichen noch verschärft. Sie sagen, die Gesellschaft beraubt sich ihrer Zukunft, wenn sie die „Generation Corona“ abhänge. Was heißt das konkret?

C. und Ch. Butterwegge: Ungleichheit zerreißt eine Gesellschaft, stört den sozialen Zusammenhalt und verhindert, dass die junge Generation in der Welt ihrer Eltern heimisch wird. Wenn die Gesellschaft eine Zukunft haben will, muss sie mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit verwirklichen, damit alle Kinder mit der Chance aufwachsen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und ihre Talente zu entfalten, unabhängig davon, in welche Familie sie hineingeboren wurden. Aktuell verschärft die Covid-19-Pandemie das Risiko für einen Teil der Kinder und Jugendlichen, etwa im Bereich der Bildungschancen und der psychosozialen Gesundheit zurückgelassen zu werden. Und das trifft sie in einer Lebensphase, in der sie besonders verwundbar sind und die Weichen für ihre Bildungsbiografien gestellt werden. Das beinhaltet unter Umständen lebenslange Folgerisiken, später von einer erfolgreichen Teilhabe am Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu sein. Es geht um die Zukunft junger Menschen in einer wohlhabenden Gesellschaft der Gleichheit, die ihnen ausnahmslos ein glückliches Leben ohne materielle Sorgen und ohne Diskriminierung wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität ermöglicht.

 

Was ist nötig, um den Kampf gegen die Kinderarmut zu gewinnen: Was erwarten Sie vom Staat? Was erhoffen Sie sich von den Bürgern?

C. und Ch. Butterwegge: Erforderlich sind mehr Sensibilität für Prekarisierungs-, Marginalisierungs- beziehungsweise Pauperisierungsprozesse, die Wiederbelebung der Solidarität und eine höhere Sozialmoral, die aufgrund der Wohnungsnot und des Mietwuchers in prosperierenden Großstädten und Ballungsgebieten der Bundesrepublik allmählich bis in die Mittelschicht reichende Desintegrations-, Exklusions- und Deprivationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Kinderarmut ist ein viel zu ernstes Problem, um seine Lösung den unmittelbar betroffenen Familien sowie meistenteils gleichfalls hilflosen Erzieher(inne)n, Lehrer(inne)n und Sozialarbeiter(inne)n zu überlassen. Nur durch wohlfahrtsstaatliche Intervention kann sie verringert und ihre Neuentstehung verhindert werden. Ein inklusiver Sozialstaat, der alle Familien wirksam absichert, braucht neben einer solidarischen Bürgerversicherung eine soziale Grundsicherung, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient, weil sie armutsfest, bedarfsgerecht und repressionsfrei ist, also ohne Sanktionen auskommt.

 

Dr. Carolin Butterwegge ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln; Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat dort von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft gelehrt.

18.08.2021

Wirtschaft & Gesellschaft

Kinder der Ungleichheit
Kinder der Ungleichheit
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