Ihr Buch heißt: »Die Angezählten. Wenn wir von unserer Arbeit nicht mehr leben können? Wer ist mit »wir« gemeint?
Anette Dowideit: Das »wir« habe ich bewusst gewählt, weil es in dem Buch zu großen Teilen um die deutsche Mittelschicht geht. Unsichere Arbeitsbedingungen, miese Bezahlung und wackelige finanzielle Verhältnisse betreffen heute nicht mehr nur die klassischen Billigjobs am unteren Rand des Arbeitsmarktes. Sondern – und das beleuchte ich in dem Buch – es hat sich auch in vielen klassischen Mittelschicht-Jobs ein großer Frust über die Beschäftigungsverhältnisse breitgemacht. Das betrifft Krankenschwestern, Lehrer, Fachverkäufer im Einzelhandel, Journalisten, Bankberater und viele mehr.
Gab es einen konkreten Impuls, der Sie veranlasste, das Buch zum jetzigen Zeitpunkt zu schreiben?
Anette Dowideit: Ich recherchiere seit einigen Jahren am Arbeitsmarkt, und schreibe häufiger darüber, wenn große bekannte Firmen gegen das geltende Arbeitsrecht verstoßen – oder es so weit dehnen, dass es zumindest moralisch schwer vertretbar ist. Gerade in der letzten Zeit ist mir dabei eine Reihe haarsträubender Fälle untergekommen, bei denen ich feststellen musste: Von der Politik werden solche fragwürdigen Methoden teils geduldet, teils sogar noch gefördert. Gleichzeitig ist seit einigen Monaten zu beobachten, dass vielerorts im Land der Frust wächst. Das lässt sich zum Beispiel daran festmachen, dass vor ein paar Monaten Menschen in Berlin die Autos von Wohnungsbau-Managern angezündet haben. Offenbar aus Wut darüber, dass viele arbeiten und sich trotzdem ihre Miete kaum noch leisten können. Und der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert forderte sogar, Konzerne zu enteignen. Das war für mich der Punkt, an dem ich sah: Hier läuft einiges aus dem Ruder.
Sie schreiben davon, dass immer mehr Menschen aus angesehen Berufen – zum Beispiel Piloten und Lehrer – den sozialen Abstieg fürchten müssen. Wer ist für diese Entwicklung maßgeblich verantwortlich?
Anette Dowideit: Es gibt nicht den einen Schuldigen, es ist vielmehr ein fataler Dreiklang aus Unternehmen, die möglichst profitabel sein wollen und deshalb ihren Angestellten mehr und mehr Flexibilität abverlangen; Politikern, die diese Unternehmen gewähren lassen – weil sie befürchten, Deutschland sei sonst bald nicht mehr international wettbewerbsfähig – und uns Konsumenten. Wir haben uns so daran gewöhnt, dass gerade Dienstleistungen immer billig sein müssen, sei es die Bankberatung, sei es ein Zeitungsartikel im Internet, sei es die Paketlieferung vom Onlinehandel oder der billige Inlandsflug – dass wir oft gar nicht mehr hinterfragen, wie diese Preise eigentlich zustande kommen und wer in Wahrheit am Ende den Preis dafür zahlt. Das sind nämlich die Arbeitnehmer.
Sie kritisieren, die Bundesregierung habe keine passende Lösung für das Problem der destabilisierten Mittelschicht. Was schlagen Sie vor?
Anette Dowideit: Eines der größten Probleme der Mittelschicht ist, dass sich in vielen Berufsbildern das klassische Beschäftigungsverhältnis auflöst, in dem es einen Arbeitgeber gibt, einen Arbeitnehmer und einen festen Vollzeit-Arbeitsvertrag. Viele arbeiten in befristeten Verträgen – hier sollte die Politik den Unternehmen noch engere Grenzen setzen – und vielen andere arbeiten unfreiwillig als Freiberufler. Sie hangeln sich in der sogenannten »Gig Economy« von einem Gig, also Auftrag, zum nächsten. Das aber bedeutet für viele Menschen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in Altersarmut rutschen. Um dieses Problem zu lösen, muss die Arbeitsmarktpolitik dafür sorgen, dass die Freiberufler für ihre Arbeit Honorare verlangen können, von denen sie sich Sozialbeiträge leisten können. Wir könnten uns dabei etwa aus anderen Ländern abschauen: Dort zahlen die Nutzer einer Dienstleistung, zum Beispiel Kunden von Taxidiensten oder Essenslieferdiensten, direkt bei ihrer Bestellung einen kleinen Betrag aufs Sozialversicherungskonto des Dienstleisters. Dieses Konzept der Konsum-Abgabe ließe sich auf fast alle Branchen übertragen.
Wodurch könnten wir als Bürger für fairere Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sorgen?
Wir brauchen wieder viel mehr Tarifbindung in Unternehmen und mutige Politiker, die diese durchsetzen. Wir brauchen Arbeitsmarktpolitiker, die sich trauen, Lohnausbeutern gegenüber klare Kante zu zeigen – zum Beispiel müssen Konzerne in allen Branchen dafür haftbar gemacht werden, wenn ihre Subunternehmer keinen Mindestlohn zahlen.
Anette Dowideit ist Diplom-Volkswirtin, Absolventin der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft, Autorin mehrerer Bücher, regelmäßiger Gast in Talkshows. Sie arbeitet als Chefreporterin bei der Zeitungsgruppe »Die Welt«. Nach vier Jahren als Korrespondentin in New York ist sie seit 2011 Mitglied des Investigativteams. Für ihre Recherchen kooperiert sie mit Fernsehredaktionen wie Frontal 21 oder dem Rechercheteam des Bayerischen Rundfunks - und steht dabei auch selbst vor der Kamera.
Sie möchten diesen Artikel weiterverwenden?
Darüber freuen wir uns. Mehr über eine Wiederverwertung erfahren Sie in unseren Nutzungsbedingungen.