»Sklaven des Wachstums. Geschichte einer Befreiung« heißt Ihr neues Buch. Wie konnte es zu dieser Versklavung kommen – und warum ist die Vorstellung von Wachstum Sklaverei?
Reiner Klingholz: Wir haben uns in den wohlhabenden Ländern nicht nur daran gewöhnt, dass alles wächst: die Bevölkerung, die Einkommen, die Zahl der Konsumgüter, der Rohstoffverbrauch … . Wir sind auf dieses Wachstum auch angewiesen, denn unser Wirtschaftssystem und die Finanzen der Staaten können nur funktionieren, wenn es immer mehr Wachstum gibt. »Ohne Wachstum ist alles nichts«, sagt die Kanzlerin. Deshalb haben wir uns vom Wachstum versklaven lassen. Wir haben keine Konzepte für ein Leben ohne Wachstum und wissen dennoch, dass dauerhaftes Wachstum auf einem begrenzten Planeten gar nicht möglich ist: ein glasklares Dilemma.
Viel gesprochen wird von dem Problem, dass die Weltbevölkerung immer weiter wächst. Sie aber prognostizieren eine Schrumpfung. Wie kommen Sie dazu? Und würde eine Schrumpfung nicht zu einer Lösung der Probleme beitragen?
Reiner Klingholz: In der Tat wächst die Weltbevölkerung heute noch im Rekordtempo – umgerechnet um ein Deutschland pro Jahr. Aber überall auf der Welt sinken die Geburtenraten. Schon lebt die Hälfte der Menschheit in Ländern, in denen die Zahl der Neugeborenen langfristig kein Wachstum der Bevölkerung mehr erlauben wird. In vielen Entwicklungsländern sinkt sie derzeit am schnellsten. Wo sich Wohlstand und Bildung ausbreiten, bekommen die Menschen im Schnitt nicht mehr als zwei Kinder. Deshalb muss man davon ausgehen, dass die Zahl der Menschen zwar noch auf etwa zehn Milliarden steigen, dann aber zu schrumpfen beginnen wird. Es gibt glaubhafte Annahmen, dass wir im Jahr 2300 nicht einmal mehr halb so viele wie heute sein werden.
Sie prognostizieren in den nächsten 200 bis 300 Jahren massive Krisen – wir steuern, sagen Sie, auf eine Art Katharsis zu.
Welche Weichenstellungen in der Umwelt-, Energie- und Bevölkerungspolitik könnten die Krise mildern? (Sind wir noch nicht einfallsreich genug?)
Reiner Klingholz: Tatsächlich würden drei Milliarden Menschen deutlich weniger Schaden an der Umwelt anrichten als sieben oder zehn. Aber bevor wir diesen wohltuenden Rückgang erleben, müssen sich die heute armen Länder erst einmal entwickeln und zu einem gewissen Wohlstand kommen. Anderenfalls würde ihre Bevölkerung immer weiter wachsen und die Probleme vergrößern. Entwicklung bedeutet aber einen steigenden Energie- und Rohstoffverbrauch. Die reichen Länder müssen den ärmeren dabei helfen, auf ihrem Entwicklungsweg möglichst wenig Schaden anzurichten. Aber ohne Schaden wird es nicht gehen. Das beste Mittel, um das Bevölkerungswachstum zu bremsen, ist Bildung, besonders für Mädchen. Frauen mit Sekundarabschluss bekommen weniger Nachwuchs und kümmern sich ihrerseits mehr um den Erfolg und die Gesundheit ihrer Kinder: Frauen sind der Schlüssel zur Entwicklung.
Ihrer Prognose zufolge wird es nach der Befreiung aus dem Wachstumsdiktat Gewinnerregionen geben – wie Grönland, das Ihrer Meinung nach zu einem Ort der Zuflucht werden wird. Können Sie das erläutern? Und werden die Krisenregionen von heute noch die von morgen sein?
Reiner Klingholz: Kaum ein Land wird sich durch den Klimawandel mehr verändern als Grönland. Sein riesiger, bis zu drei Kilometer dicker Eispanzer dürfte zumindest teilweise abschmelzen. Schon heute breitet sich die Landwirtschaft aus und vielerorts entsteht ein neues »Grünland«. Zudem wird der steigende Meeresspiegel dieser größten Insel der Welt keinen nachhaltigen Schaden zufügen. Weil der Druck des Eises nachlassen wird, wird sich das Land aus dem Meer heben und eine neue Küstenlinie schaffen. In einer deutlich wärmeren Welt wird Grönland ein angenehm mildes Klima bieten.