Die Welt steht unter Schock. Wir stecken mitten in einer Energiekrise, die die globale Wirtschaft erschüttert. Für Sie hat sich die Krise längst angebahnt, oder?
Claudia Kemfert: Es gibt zwei Gründe, warum das Buch »Schockwellen« heißt.
Erstens: Für die meisten Menschen reiht sich gerade Schockwelle an Schockwelle. Erst der Kriegsausbruch, dann die Angst vor einer Gaskrise, dann fliegt die Ostsee-Pipeline in die Luft, dann explodieren die Energiepreise, dann steigen alle Preise, es gibt eine Inflation wie lange nicht und ein Ende ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: In der Ferne lauert eine apokalyptische Klimakrise, deren Auswirkungen wir immer stärker spüren.
Zweitens: Für mich sind, wie für die allermeisten Wissenschaftler:innen, alle diese Ereignissen überhaupt kein Schock. Wir haben das kommen gesehen. Und wir haben vielfach davor gewarnt. Für mich und viele Kolleg:innen ist es schockierend, dass uns so lange niemand zugehört hat und auch jetzt wieder wissenschaftliche Erkenntnisse und Lösungen nicht ernstgenommen werden.
Warum brauchte es den großen »Knall«, damit die Gesellschaft aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und den Ernst der Lage erkennt?
Claudia Kemfert: Der Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 war ein gewaltiger Knall. Schon die Annexion der Krim 2014 war ein ziemlich lauter Knall. Und davor gab es viele andere. Leider gewöhnen wir uns offenbar an solchen Lärm. Das ist supergefährlich! Im letzten Frühjahr sind viele Menschen aufgeschreckt. Ich dachte: Jetzt haben alle den Schuss gehört. Doch dann wurden wieder die altbekannten Schlaflieder gesungen und die beliebtesten Märchen des fossilen Zeitalters verbreitet. Deutschland, ruhe sanft! Und jetzt ist wieder ein Jahr vergangen, ohne das Wesentliches verändert wurde. Genau deswegen habe ich das Buch geschrieben. Wir haben nur noch ein kleines Zeitfenster, um das Schlimmste zu verhindern. Wer jetzt den Knall nicht gehört hat, will ihn nicht hören. Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem.
Wer zahlt den Preis, dass Kohle, Fracking und Atomkraft plötzlich wieder auf der Tagesordnung stehen?
Claudia Kemfert: Alle zahlen den Preis. Auch wir Deutschen. Nur dass wir es uns (noch) leisten können. Die hohen Energiepreise sind die Folgen der fossilen Monokultur und unserer Abhängigkeit von dieser zerstörerischen Energieform. 300 Milliarden Euro muss Deutschland gerade investieren, um die akuten Folgen der Lieferkrise einzudämmen. Und das ist nur der Anfang.
Richtig schlimm trifft es derzeit die Ärmsten und Schwächsten. Aber irgendwann wird es sogar die Reichsten treffen. Denn auch für die gibt es keinen Planeten B.
Überall auf der Welt spüren wir die Folgen des fossilen Krieges gegen die Natur. In Wirtschaft und Politik wird immer erbitterter um die schwindenden Ressourcen Öl und Gas gekämpft, immer öfter auch militärisch. Zugleich gibt es immer mehr Klimaflüchtlinge. Die wachsende globale Migration passiert aufgrund von Kriegen und Konflikten oder wegen Dürren, Hitze oder anderen klimabedingten Katastrophen.
In ihrem Buch ergründen Sie die Ursachen der Energiekrise. Wo fing es an und wer waren die Treiber?
Claudia Kemfert: Rohstoffe waren immer schon eine Waffe, egal ob Salz oder Seide, Holz oder Opium. Dafür gibt es in der langen Geschichte zahlreiche Beispiele. Spätestens seit der industriellen Revolution ist Energie eine wertvolle Ressource. Vor allem in den letzten 60 Jahren hat Deutschland sich in der Energieversorgung zu sehr auf fossile und atomare Energien konzentriert und sich dabei aus politischen Gründen sehr von russischen Quellen abhängig gemacht. Lange hat man das als Friedensprojekt betrachtet. In den letzten zwanzig Jahren aber häuften sich die Warnungen vor einer zu stärken Abhängigkeit. Treibend waren dabei die politisch Verantwortlichen in der Bundesregierung und an der Spitze großer deutsche Konzerne. Im Buch geht es unter anderem um die Entscheidungen von Angela Merkel und Peter Altmaier, Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig und Sigmar Gabriel, aber auch um die Vorstände von BASF, E.on oder RWE.
Sie sagen: »Wir müssen Tempo aufnehmen. Die Kipppunkte kommen in rasender Geschwindigkeit immer näher.« Fazit: »Es ist allerhand möglich«, aber welche Schritte sind jetzt nötig?
Claudia Kemfert: Die nötigen Maßnahmen sind bekannt, seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Kern geht es um die Energiewende, also den konsequenten und schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien. Es geht um die Verkehrswende, also den Umbau weg von einer auto-zentrierten Verkehrspolitik hin zu einer menschen-zentrierten Stadtgestaltung. Es geht um die Wärmewende, also die Sanierung und Dämmung von Gebäuden sowie die Umstellung auf andere Heizmethoden, also zum Beispiel Wärmepumpen. Außerdem brauchen wir sehr viel mehr Energiesparmaßnahmen. Wir brauchen Energiespeicher, etwa in Form von Wasserstoff-Speichern, was doppelt wichtig ist, weil wir Wasserstoff auch für energieintensive Industrien benötigen, etwa die Glas-, Stahl- und Zementproduktion oder auch für große Schiffe oder schwere Industriemaschinen.
Die To-do-Liste ist lang, wenn wir sie im Ganzen betrachten, aber sie ist machbar, wenn wir sie konkret runterbrechen auf Kommunen, Unternehmen und Privatpersonen. Wir brauchen nur den politischen Willen und die richtigen Rahmenbedingungen, also passende Gesetze und vereinzelt auch gezielte finanzielle Förderung.
Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben?
Claudia Kemfert: Für alle, die sich fragen, wieso wir so tief in der Krise stecken. Alle, die spüren, dass unsere aktuellen Probleme sich nicht mit zwölf neuen LNG-Terminals lösen lassen. Alle die ahnen, dass die aktuellen Krisen miteinander zusammenhängen. Und alle die spüren, dass man die multiplen Krisen der Gegenwart und die Herausforderungen der Zukunft nicht mit den Antworten und Techniken der Vergangenheit bewältigen kann.
Was war die Herausforderung?
Claudia Kemfert: Herausfordernd war vor allem die wechselnden aktuellen Ereignisse während des Schreibprozesses, weil bis zur Drucklegung völlig unklar war, wie sich die Kriegssituation, aber auch der hybride Energie-Krieg weiterentwickeln. Bis heute ist nicht absehbar, wie die Lage in der Ukraine, aber auch die globale Energiesituation morgen sein wird. Wir fahren auf Sicht. Umso wichtiger ist es, dass wir uns zügig aus der Abhängigkeit befreien.
Denn derzeit sieht es danach aus, dass die Energieversorgung leider vorrangig fossil gesichert wird und somit die Energiewende weiter stockt. So werden wir die fossilen Kriege nie beenden. Diese Herausforderung bleibt.
Claudia Kemfert ist die wichtigste deutsche Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit. Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Spitzenforscherin, gefragte Expertin für Politik und Medien und Bestsellerautorin.
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