Ein Beitrag von David Becker und Gabriele Rosenthal
Seit vielen Jahren vergeht fast kein Tag, an dem wir nicht in den Nachrichten etwas über die Konflikte im Nahen Osten zu hören bekommen. Konflikt der Kulturen? Antisemitismus? Rassismus? Spätimperiale Unterdrückung? Islamismus? Öl? Demokratie? Beschlagnahmung und Landraub? Autoritarismus? Es scheint, als ob in dieser kleinen Gegend am Rand des Mittelmeeres alle Konfliktlinien dieser Welt zusammenfinden und ausgetragen werden. Israelis und Palästinenser sind die Protagonisten eines der zentralen Konflikte, der seit über 100 Jahren andauert, über den zwar viele Menschen eine Meinung haben, aber nur wenige wissen, was dort vor sich geht und wie das gegebenenfalls zu erklären ist. Die Haltungen, die unterschiedliche Personen zu diesem Konflikt einnehmen, werden hochemotional gewertet und symbolisch ausgeschlachtet. Kritiker israelischer Politik werden schnell als Antisemiten, Kritiker palästinensischer Politik als westliche Imperialisten diffamiert. Im flaggenbegeisterten Nordirland kann man in Republikanervierteln häufig auch die palästinensische, in Unionistenvierteln die israelische Fahne finden. Auf deutschen Schulhöfen, die inzwischen vielfach multikulturell geprägt sind, finden wir Kinder, die sich entsprechende Schimpfworte an den Kopf werfen, obwohl sie von dem Konflikt, um den es geht, wenig und vom Wesen der beteiligten Religionen und Nationen besonders wenig wissen.
Die Sehnsucht nach einer Wahrheit
Man sehnt sich auf dieser Grundlage nach einem Stückchen gesicherter Wahrheit, nach Fachäußerungen, denen es gelingt, komplizierte Verhältnisse vernünftig und rational zu erklären, die eine Perspektive aufzeigen können. Aber was, wenn es so etwas gar nicht gibt? Was, wenn Fakten eben keine Fakten sind, sondern immer auch Teil eines bestimmten Diskurses, hinter dem bestimmte Zugehörigkeiten, Meinungen und politische Ansichten stehen? Was, wenn Geschichte gerade und vor allem ein höchst unsicheres Terrain ist, auf dem uns niemand erzählt, was wirklich war, sondern stattdessen konstruiert wird, was gewesen sein könnte, was wir glauben wollen oder sollen, was wir aus irgendeiner Perspektive heraus für wirklich halten? Sami Adwan und Dan Bar-On haben mit ihren israelischen und palästinensischen KollegInnen ein Schulbuch geschrieben, ein Geschichtsbuch für Kinder und Jugendliche: »Die Geschichte des Anderen kennenlernen«. Dieses Buch verkündet keine absolute geschichtliche Wahrheit, keine simplen Fakten, die uns den Konflikt ein für alle Mal erklären würden, uns zeigen könnten, wer gut, wer böse ist, wer richtig, wer falsch gehandelt hat, wer gerecht, wer ungerecht war, wer Sieger, wer Verlierer. Stattdessen bieten sie uns zwei Narrative, zwei Arten und Weisen, die Geschichte zu erzählen, die Fakten darzustellen und zu interpretieren. Zwischen diesen beiden Geschichten lassen sie uns einen Raum für eigene Gedanken. Damit haben sie ein Buch verfasst, das zwar als Schulbuch begonnen hat, in Wirklichkeit aber etwas Neues und Komplexes anbietet, was gerade auch für Erwachsene eine besondere Herausforderung darstellt: Geschichte wird als Konflikt dargestellt, der immer auch ein Konflikt der Narrative ist. Wir erleben beim Lesen hautnah, wie sehr Geschichte nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als die Auseinandersetzung darüber, was war.
Raum für Gedanken
Es ist uns ein besonderes Anliegen, dass der vorliegende Band über zwei sehr unterschiedliche und deutlich im Konflikt stehendende historische Großnarrative zur israelisch-palästinensischen Geschichte des letzten Jahrhunderts nun endlich auch in deutscher Sprache erscheint. Eine differenzierte Sicht auf den Nahostkonflikt und dessen Geschichte, die sich nur durch das Kennenlernen und Nachvollziehen der verschiedenen Perspektiven darauf entwickeln kann, ist insbesondere für uns Deutsche von besonderer Bedeutung, weil unsere Perspektiven immer auch – ob von uns gewollt oder nicht – verschränkt bleiben mit den sich in Deutschland mittlerweile etablierten Diskursen und historischen Großnarrativen über die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust. Dazu gehört auch, dass über sie die Art und Weise definiert wird, wie man in Deutschland glaubt zum Konflikt im Nahen Osten Stellung nehmen zu können, zu sollen oder zu dürfen. Sehr häufig steht hier eine moralische Haltung im Vordergrund, die sich eben leider nicht aus einem differenzierten Wissen speist, sondern ganz im Gegenteil aus einem kenntnislos übernommenen Wertekanon. Die so entstandene Moral bleibt oberflächlich und hohl. Vielleicht ist der scheinbare Umweg über die zwei Narrative aus Israel/Palästina notwendig, um auch in Deutschland weniger moralisierend und mit mehr Sachkenntnis auch das eigene Großnarrativ weiterzuentwickeln.
Die Beiträge in diesem Band, die zwischen 2002 und 2007 verfasst wurden, sind aus der Gegenwartsperspektive der zweiten Intifada, die im September 2000 begann, geschrieben. Bereits unmittelbar nach dem Beginn dieser sehr gewaltsamen Phase des Nahostkonflikts entstand bei Adwan und Bar-On die Idee zu diesem Projekt. Ihr gemeinsames Projekt war ein Versuch, gegen die in dieser Phase zunehmend als unüberwindbar erscheinenden Gräben zwischen beiden Seiten zu arbeiten und zu schreiben. »Es wäre ein kleiner Schritt nach vorne«, schreibt Bar-On 2004 im Rückblick auf den Beginn des Projektes, »wenn israelische und palästinensische Kinder dazu erzogen würden, die historische Erzählung der anderen Seite kennen zu lernen, zu respektieren und anzuerkennen, ohne dabei ihre eigene Erzählung aufzugeben«. Dieser kleine Schritt nach vorn bzw. die vielen kleinen Schritte erfolgten bereits im Entstehungsprozess dieses Buches bei den AutorInnen selbst, die sich 2002 in mehreren Workshops zunächst einmal ihre jeweiligen Familien- und Lebensgeschichten erzählten und sich über ihr persönliches Erleben des gewaltsamen Konflikts in der Gegenwart austauschten. Ohne die große Sensibilität von Dan Bar-On als Angehörigem der etablierten, machtstärkeren Partei in diesem Konflikt für die Machtungleichheit zwischen den PalästinenserInnen und den jüdischen Israelis der Autorengruppe und ebenso ohne die Sensibilität von Sami Adwan für die Perspektiven der jüdischen Israelis und für deren subjektives Gefühl von Gefährdung und Hilfslosigkeit wäre dieses Projekt sicherlich nicht erfolgreich gewesen.
»Die Geschichte des Anderen kennenlernen« erscheint am 09. Juli 2015.
Zu den Herausgebern des Buches:
Das Peace Research Institute in The Middle East (PRIME) ist eine gemeinnützige Nichtregierungsorganisation, die 1998 von dem israelischen Psychologen Dan Bar-On und Sami Adwan, einem palästinensischen Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bethlehem, ins Leben gerufen wurde. Eyal Naveh, mit Sami Adwan der derzeitige Geschäftsführer der Institution, ist Geschichtsprofessor und lehrte bis 2007 an der Universität in Tel Aviv.
Zu den Autoren dieses Beitrags:
David Becker ist Professor für Psychologie an der Sigmund Freud Privat Universität Berlin und Direktor des »Büros für psychosoziale Prozesse« (OPSI).
David Becker ist Professor für Psychologie an der Sigmund Freud Privat Universität Berlin
Gabriele Rosenthal ist Professorin für Qualitative Methoden an der Georg-August-
Universität Göttingen, Methodenzentrum Sozialwissenschaften.