Wissenschaft

»Demagogen spielten und spielen gerne mit einem unreflektierten Nationalismus«

Der Historiker Boris Barth im Interview über sein neues Buch: »Europa nach dem Großen Krieg«.

Wie Sie in Ihrem Buch eindrucksvoll darlegen, machten in den 1920er und 1930er Jahren die demokratischen Systeme, die in Europa nach dem Ersten Weltkrieg neu entstanden, autoritären oder faschistischen Regimen Platz. Wie konnte es zu dieser destruktiven Dynamik kommen?

Boris Barth: Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens hatte der Erste Weltkrieg zu einer erheblichen Ausweitung von Massenpartizipation an der Politik geführt. Diese »Massen« mussten nach 1918/19 in neue politische Strukturen eingebunden werden, aber dies gelang in vielen Ländern nur unzureichend. Zweitens hatten der Krieg und vor allem die so genannten Nachkriegskämpfe zu einer erheblichen Brutalisierung vieler Gesellschaften geführt. In diesen Nachkriegskämpfen waren paramilitärische Strukturen, in Deutschland beispielsweise die Freikorps, entstanden, die in den 1920er Jahren stabile, antidemokratische Subkulturen formierten. Ferner hatten die Kriegs- und die Nachkriegszeit zu erheblichen »Ethnisierungen« geführt, d.h. Minderheiten wurden nach dem Zusammenbruch mehrerer Imperien in sehr vielen europäischen Staaten offen diskriminiert oder vertrieben. Diese ethnischen Säuberungen, die vergleichend bisher nur unzureichend erforscht worden sind, hatten erhebliche Konsequenzen, weil Millionen von Flüchtlingen lautstark außenpolitische Revisionen forderten. Dann muss natürlich auch noch die Weltwirtschaftskrise nach 1929 erwähnt werden. Diese war zwar meistens nicht ursächlich für die Ent-Demokratisierung vieler Staaten verantwortlich, aber sie spielte die Rolle eines Katalysators, der bereits bestehende Trends drastisch verstärkte.


Gab es in der Zwischenkriegszeit Tendenzen der Selbstauflösung dieser Demokratien?

Boris Barth: Diese Frage muss man eindeutig mit »ja« beantworten. Eine zentrale These in meinem Buch besteht darin, dass nicht die Stärke von antidemokratischen Bewegungen oder von kommenden Diktatoren für den Zusammenbruch von Demokratien verantwortlich waren. Viel wichtiger war, dass in vielen Staaten die demokratische »Mitte«, d.h. diejenigen Parteien, die in der Lage waren, Brückenfunktionen wahrzunehmen, zerrieben worden waren. Erst dann begann der Aufstieg der Diktatoren. Beispielsweise hatte der italienische Liberalismus nach dem Ende des Ersten Weltkrieges restlos abgewirtschaftet und stellte keine politische Alternative mehr dar. Der politische Katholizismus hingegen war nur sehr zögernd bereit, sich hinter den parlamentarischen Staat zu stellen. Nur vor diesem Hintergrund war der Aufstieg von Mussolinis Faschismus möglich. Ähnliche Tendenzen zur Selbstauflösung oder Selbstpreisgabe bestanden auch im Deutschen Reich.

War Deutschland in Europa damals ein Sonderfall? Oder folgte die »Machtergreifung« des Nationalsozialismus 1933 Mustern, die in anderen Ländern vorgegeben waren?

Boris Barth: Diese Frage kann sowohl mit einem »ja«, als auch mit einem „nein“ beantwortet werden. Starke faschistische Bewegungen waren in Europa eher die Ausnahme von der Regel, sie spielten nur in Italien, im Deutschen Reich und in Rumänien eine Rolle. In dieser Hinsicht stellte Italien und der so genannten »Marsch auf Rom« sicherlich ein Vorbild dar. Ansonsten haben die autoritären Systeme in der Regel faschistische Bewegungen unterdrückt, weil diese für »traditionelle« Diktaturen eine Bedrohung darstellten. Selbst Franco hat die spanischen Faschisten während des Bürgerkrieges zwar benutzt, hat aber sehr darauf geachtet, dass sie unter seiner Kontrolle blieben und zu keinem eigenständigen Machtfaktor wurden.


Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden ab 1989 in zahlreichen Ländern des ehemaligen Ostblocks wieder Demokratien. Einige dieser Staaten, zuletzt Ungarn und Polen, entfernen sich heute jedoch – so scheint es für westeuropäische Betrachter jedenfalls – von der parlamentarischen Regierungsform. Sehen Sie hier Parallelen zu der Entwicklung der 1920er und 1930er Jahre?

Boris Barth: Sicherlich gibt es Tendenzen hin zu autoritären Regimen, neben Ungarn und Polen sind die Entwicklungen in Russland und in der Türkei besorgniserregend. Aber es gibt auch wesentliche Unterschiede zur Zwischenkriegszeit. Vor allem gibt es derzeit supra-nationale Organisationen wie die Europäische Union, die eine Art von Korrekturmechanismus darstellt. Ferner existiert ein grundlegender Konsens in ganz Europa, dass die bestehenden Grenzen nicht angetastet werden dürfen – der Konflikt um die Krim war eher die Ausnahme und hat zu Recht einige Empörung ausgelöst. In der Zwischenkriegszeit war die Situation ganz anders, weil in fast allen europäischen Eliten starke revisionistische Kräfte existierten, die aktiv auf territoriale Veränderungen hinarbeiteten.

Welche Lehren können wir für die politische Situation in Europa heute aus Ihrem Buch ziehen?


Boris Barth: Eine kämpferische Demokratie muss vor allem drei Entwicklungen im Auge behalten. Erstens ist es häufig nur schwer zu vermitteln, dass in Demokratien Kompromisse die Regel sind. Kompromisse stellen aber häufig niemanden ganz zufrieden und sind oft nur schwer zu vermitteln. Zweitens gibt es – beispielsweise in der so genannten »Flüchtlingskrise« - häufig Probleme, auf die niemand fertige Lösungen oder eindeutige Antworten hat. Populistische Strömungen, die behaupten, es gäbe simple Antworten auf komplizierte Probleme, muss eine parlamentarische Demokratie aber offensiv bekämpfen. Drittens schließlich muss jeder Form von Rassismus und offener rassischer Diskriminierung sofort und sehr entschieden entgegengetreten werden. Demagogen spielten und spielen gerne mit einem unreflektierten Nationalismus, der heute nach wie vor vorhanden, aber nicht mehr zeitgemäß ist.

 

Zum Autor

Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.

04.04.2016

Wissenschaft

Europa nach dem Großen Krieg
Europa nach dem Großen Krieg
Hardcover gebunden
34,95 € inkl. Mwst.