Wissenschaft

»Sie fühlten sich wie gläserne Menschen«

Maren Richter hat mit »Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970 – 1993)« die erste historische Darstellung des Personenschutzes in der BRD vorgelegt. Die freie Wissenschaftlerin und Publizistin sprach mit zahlreichen Vertretern der politischen Elite der 70er- und 80er-Jahre und hat dabei erstaunliche Eindrücke gewonnen. Im Gespräch mit campus.de berichtet Maren Richter über ihr Buch.

1977 ermordeten Terroristen der RAF den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, und den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Deutschland reagierte mit einer neuen, professionelleren Form des Personenschutzes. Was änderte sich konkret?

Maren Richter: Die Attentate der RAF in den 70er-Jahren waren ein Schock für die Sicherheitsorgane der Bundesrepublik. Sie hatten offenbart, dass der Staat seine wichtigsten Repräsentanten nicht mehr schützen konnte. Das Bundeskriminalamt, zuständig für den Personenschutz, reagierte zunächst hektisch und aus dem Stegreif mit der Ausweitung des Schutzkreises und der Behebung taktischer Fehler wie zum Beispiel das zu dichte Auffahren der Kolonnenfahrzeuge bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer. Diese kurzfristigen Anpassungen konnten jedoch die kommenden Attentate der 80er-Jahren nicht verhindern, sodass die Sicherheitsexperten begannen, das System des Personenschutzes nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu verbessern. So wurde zum Beispiel das Fahndungskonzept 106 entwickelt, das vorsah, das Umfeld einer gefährdeten Person zu beobachten, um Vorbereitungen für ein Attentat schon im Vorfeld zu erkennen. Trotz allmählicher Professionalisierung des Schutzes hatten Einzelfehler verheerende Folgen: Wäre im Fall Detlev Karsten Rohwedder nicht nur das Erdgeschoss, sondern auch der erste Stock seines Wohnhauses mit Sicherheitsglas ausgestattet worden, wäre der Treuhandchef wohl nicht am 1. April 1991 erschossen worden.


Sie geben in Ihrem Buch »Leben im Ausnahmezustand« einen Einblick in den Alltag der Betroffenen. Wie sah ein »normaler« Tag in diesem Ausnahmezustand aus?

Maren Richter: Politiker unter Schutz wurden bereits morgens von ihrem Schutzkommando abgeholt. Die Polizisten tranken dann auch mal einen Kaffee am Frühstückstisch der Familie. Hans-Ludwig Zachert, der Chef des Bundeskriminalamts (BKA), wurde von seinem Kommando direkt von seiner Wohnungstür in die Garage geschleust, in eines der gepanzerten Fahrzeuge gesetzt und auf möglichst wechselnden Fahrtstrecken zum BKA gebracht. Für die Abfahrt des Bundesinnenministers Gerhart Baum wurde die gesamte Straße vor seiner Kölner Stadtwohnung für einige Minuten komplett gesperrt. Unter Beobachtung zahlreicher Überwachungskameras spielten die Kinder von gefährdeten Politikern im heimischen Garten; während des Schulunterrichts saßen Polizeibeamte vor der Tür ihrer Klasse. Die Ehefrauen wie Loki Schmidt mussten tägliche Unternehmungen wie Einkäufe bereits im Voraus mit dem Kommando absprechen. Angesichts dieser Einschränkungen im täglichen Privatleben wundert es nicht, dass auch hochrangige Politiker wie Willy Brandt kreativ in der »Fluchtplanung« waren und gern auch mal die Personenschützer austricksten.

Sie haben im Rahmen Ihrer umfassenden Zeitzeugenstudie hinter die Kulissen und in die Familien geschaut. Was hat Sie am meisten beeindruckt oder überrascht?

Maren Richter: In den Gesprächen mit den Politikern und ihren Familien wurde mir immer wieder erzählt, wie stark der Personenschutz in das private und familiäre Leben eindrang. Die Auswirkungen auf die privaten Beziehungen und die Intimität waren enorm. Von morgens bis abends waren Personenschützer anwesend. Kontakte zu Freunden und Bekannten gingen verloren. Im Urlaub campierten die Leibwächter im Zelt nebenan, vor dem Hotelzimmer war stets ein Sicherheitsbeamter postiert. Ging man zu zweit am Strand spazieren, folgten die Polizeibeamten ein paar Meter dahinter. Unter Schutz war man fast nie allein. Alltägliche Zärtlichkeiten, wie sich spontan in die Arme zu fallen, sich an die Hand zu nehmen oder einen Kuss zu geben, vermieden die meisten Ehepaare. »Man zieht sich doch ein bisschen zurück«, erzählte mir BKA-Chef Hans-Ludwig Zachert. Dieser Verlust an Unbefangenheit, Spontaneität und Intimität in der gesamten Familie hat mich sehr beeindruckt, sind diese Aspekte doch wesentliche Bestandteile eines privaten Lebens, das auch als Rückzugsort vor den alltäglichen Herausforderungen gilt. Unter Schutz blieben die Momente emotionaler Entspannung und völliger Losgelöstheit rar. Wie ein »gläserner Mensch« habe man sich gefühlt, so die Erinnerung von BKA-Chef Horst Herold. Diese privaten Einsichten in das Innenleben der Politikerfamilien ergänzen unsere Sichtweise auf das politische Handeln und erweitern die historische Perspektive auf diese Zeit um einen wichtigen menschlichen Aspekt.


Ihre Studie ist die erste historische Darstellung des Personenschutzes in der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben zahlreiche exklusive Interviews mit hochrangigen Vertretern der damaligen politischen Elite geführt, unter ihnen: Roman Herzog, Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel. War die Gesprächsbereitschaft groß oder betrachten Ihre Interviewpartner die völlige Umwälzung des Lebens durch den Personenschutz eher als Tabuthema?

Maren Richter: Zunächst war die Skepsis gegenüber diesem ungewöhnlichen Thema groß. Es war nicht immer einfach, die hochrangigen Politiker der damaligen Zeit für ein Interview über ein für sie auf den ersten Blick sicher abwegiges Thema zu gewinnen. Sie sind es doch eher gewohnt, nach ihren politischen Überzeugungen und ihrem Handeln in dieser Zeit befragt zu werden. War das Interview jedoch vereinbart, lösten sich viele Politiker, sobald das Gespräch begann, von den üblichen Erzählungen und berichteten spontan und teilweise sehr emotional – oft selbst erstaunt – über ihre bis dahin wenig reflektierten Lebensbedingungen unter Personenschutz. Viele interessante und auch persönlich bedeutende Erinnerungen, die das stark öffentlich geprägte Bild der Terrorismuszeit bis dahin verdeckt hatte, traten erstmals in den Gesprächen offen zutage. Das anfangs fehlende Bewusstsein für den persönlichen Ausnahmezustand entspricht auch meiner Beobachtung: Die Lebensbedingungen als Politiker unter Schutz oder der Umgang mit der täglichen Angst vor einem Attentat waren bereits zur damaligen Zeit kaum Thema in der Öffentlichkeit. Es entsprach nicht dem üblichen Verständnis eines souveränen und handlungsstarken Politikers, Schwäche zu zeigen. Wie schwierig es jedoch war, diesen gesellschaftlichen Erwartungen angesichts der eigenen permanenten Ausnahmesituation zu entsprechen, zeigen dagegen Episoden, in denen Politiker dann auch mal hysterisch reagierten und »ausrasteten«.

 

Zur Person:

Maren Richter, Dr. phil., arbeitet als freie Wissenschaftlerin und Publizistin im Bereich der Geschichts- und Politikwissenschaft.

 

 

Sie möchten diesen Artikel weiterverwenden? Darüber freuen wir uns. Mehr über eine Wiederverwertung erfahren Sie in unseren Nutzungsbedingungen.

 

 

21.07.2014

Wissenschaft

Leben im Ausnahmezustand
Leben im Ausnahmezustand
Hardcover gebunden
34,90 € inkl. Mwst.